Man muss nicht in die Ferne schweifen, um die Welt zu entdecken. Manchmal reicht in Europa schon ein kurzer Ausflug zum nächsten Nachbarn, um in eine andere Alltagskultur einzutauchen, eine andere Sprache zu hören – oder verblüfft auf eine Speisekarte zu schauen. Wer zum Beispiel Görlitz besucht, sollte einen Abstecher über die Neiße nach Zgorzelec machen. Auch die alte Hansestadt Stettin hat sich in den letzten Jahrzehnten zum modernen Szczecin gewandelt: Die neu eröffnete Philharmonie lebt vom architektonischen Kontrast, die Oper aber ist im Alten Schloss zu Hause.

Reihe 9 in der Opera na Zamku in Szczecin / Stettin. Foto: mku
Reihe 9 (#101) – Logopädie
Gutes Schuhwerk ist angesagt, wenn man den üblichen Weg durch den Hof zur Oper nimmt. Das restaurierte Kopfsteinpflaster lässt erahnen, dass hier einst Fuhrwerke mit wenig Pferdestärken vorfuhren; außerhalb der historischen Mauern ist hingegen die Wohnbebauung nur eine einzige Gasse entfernt. Noch moderner präsentiert sich das Foyer des Kleinen Hauses, das im großen Saal mit gut 600 Plätzen mit erstaunlicher Bühnennähe und präsenter Akustik punktet. Das etwas nüchtern wirkende Raumkonzept, das sich dennoch gut in das historische Ambiente einfügt, geht auf einen 2009 durchgeführten Architektenwettbewerb zur Sanierung und Neugestaltung zurück. Zudem weiß die Programmplanung sehr genau, was sich unter den gegebenen Bedingungen inszenieren lässt und Publikum aus der Stadt, der Region und auch über die Grenzen hinaus anzieht.

Ein Eldorado für Linguisten und Logopäden. Foto: Piotr Gamdzyk
So jedenfalls war es an einem kühlen, frühlingshaften Aprilabend, als Frederick Loewes unterhaltsames Musical My Fair Lady (1956) auf dem Programm stand – eine Produktion, die bereits Ende 2021 Premiere hatte, aber noch lange nicht abgespielt ist. Im Gegenteil: Allen Beteiligten (ohnehin ein erstaunliches Aufgebot an Personal auf den schmalen Brettern) war die Freude an diesem Stück bis zum letzten Takt anzumerken. Dass auf Polnisch gesungen und mehr noch gesprochen wurde, schien zunächst eine Herausforderung zu sein. Doch schnell wurde klar, wie sehr auch diese Sprache viele Nuancen aufweist, die einem aus dem Deutschen vertraut sind. Bin hinein zu Eliza Doolittles verstellten Lauten, die in der Übertitelung ebenso witzig wie dramaturgisch geschickt in Berliner „Mundart“ übersetzt wurden. Dass Musik eine universelle Ausdrucksform darstellt, davon werden alle Leser:innen dieser Kolumne ausgehen. Dass aber auch europäischen Sprachen aus unterschiedlichen Familien in ihrer Gestik so eng miteinander verwandt sind, war am Ende eine erfreuliche Erkenntnis im Sinne einer Einheit in der Vielfalt.
Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
- Share by mail
Share on