Die Essener Philharmoniker haben die Uraufführung von Clara Iannottas neuem Orchesterwerk „Sand like gold-leaf in smithereens“ eine Woche vor dem Konzert am 30. Oktober im Rahmen des Essener Neue-Musik-Festivals „NOW!“ abgesagt. Die Komponistin hatte das Werk „für verstimmte Violine, Orchester und Elektronik“ im Auftrag der Philharmonie Essen geschrieben. Clara Iannotta ist Porträtkünstlerin der diesjährigen Festivalausgabe. Was steckt dahinter, wie geht es weiter. Christoph Becher fasst zusammen. Wir haben nachträglich noch eine Stellungnahme der Mitglieder der Essener Philharmoniker ergänzt.
Clara Iannotta, Berlin, Herbst 2017 | EvS Musikstiftung, Foto: Manu Theobald
Absage beim Essener Festival „NOW!“ – Uraufführung von Clara Iannotta kurzfristig vom Programm genommen [Update: 30.10.25]
In einem Statement auf ihrer Homepage äußert die Komponistin Vorwürfe gegen das Orchester und dessen Management: „Vor zwei Jahren fragte ich bei einem ersten Treffen mit der Orchesterleitung, ob ich auch unkonventionelle Instrumente als Teil der Orchestrierung verwenden könne. […] Bei diesem Treffen wurde mir zunächst mitgeteilt, dass die Verwendung von Gegenständen nicht erlaubt sei. Ich erklärte ihnen, dass dies so wäre, als würde man meinen Namen ohne meine Musik programmieren. Danach versicherten sie mir, dass ich alles tun könne, was ich für nötig halte. Und so schrieb ich das Stück. Nachdem das Orchester kürzlich die Partitur erhalten hatte, sah es die Anzahl der Objekte und die erforderlichen erweiterten Techniken und beschloss, eine Abstimmung durchzuführen. Es verlangte eine zusätzliche Gebühr – was in solchen Fällen nicht ungewöhnlich ist, da Objekte oft als zweite Instrumente behandelt werden –, aber es schlug einen so hohen Preis vor, dass dies praktisch eine Verhinderung darstellte. In einer geheimen Abstimmung weigerten sich 30% der Musiker, das Stück zu spielen, und das Orchester sagte die Aufführung schließlich ab, ohne auch nur die Dirigentin Elena Schwarz oder die Solistin Carolin Widmann zu konsultieren.“
Orchester und Philharmonie Essen wehren sich in ihrer Stellungnahme gegen die Vorwürfe und verweisen auch auf die verspätete Abgabe der Partitur durch die Komponistin: „Vom Zeitpunkt der ersten Gespräche über den Kompositionsauftrag an waren die Rahmenbedingungen für eine Aufführung des Werkes klar definiert und bezogen sich auch auf den Einsatz von Sonderinstrumenten oder ergänzenden Klangobjekten. Trotz der klar umrissenen Bedingungen, die sich auch im weiteren Projektverlauf nicht verändert haben, wurden diese von der Komponistin nicht eingehalten. Ebenfalls ist sie wesentlich abgewichen von den zeitlichen Vereinbarungen, die eine Abgabe der Neukomposition im August 2025 vorsahen. Tatsächlich hat die Komponistin erst im Oktober und damit deutlich verspätet die Partitur und die notwendigen Materialien zur Einstudierung vorgelegt. Trotz tiefgehender Bemühungen mit diesem Umstand umzugehen, verhinderte die Kurzfristigkeit und der daraus resultierende Zeitmangel notwendige Lösungen für eine professionelle Darbietung.“
Aus dem Umfeld des Orchesters wird der Darstellung widersprochen, die Musikerinnen und Musiker hätten darüber abgestimmt, ob sie das Stück spielen wollten. Die Abstimmung habe die Auszahlung einer Zulage für die fachfremden Instrumente und Objekte betroffen. Eine solche Zulage ist tarifrechtlich dann zugesichert, wenn zusätzliche Vorbereitungszeit in erheblichem Umfang benötigt wird, was hier der Fall sei. Mittlerweile sind die Gespräche zwischen Komponistin und der Philharmonie Essen wieder aufgenommen worden – gute Voraussetzungen für eine spätere Aufführung des Werkes.
Elena Schwarz, die mit Blick auf die Uraufführung des Konzertes von Clara Iannotta engagiert worden war, wird inzwischen nicht mehr als Dirigentin des Abends angekündigt, „freue“ sich aber, laut Orchester, auf eine spätere Zusammenarbeit mit den Essener Philharmonikern. Caroline Widmann schreibt auf ihrem Instagram-Account: „Clara hat ein wunderbares Stück geschrieben […]. Ich habe es einstudiert und mich in ihre Klangwelt vertieft, um ihre Klänge für die verstimmte Violine entsprechend der Partitur zum Leben erwecken zu können. […] Das Werk ist mir jetzt schon ans Herz gewachsen.“ Widmann spielt am 30./31. Oktober in Essen wie angekündigt Alban Bergs Violinkonzert.
Update 20.10.2025
Stellungnahme der Mitglieder der Essener Philharmoniker zur abgesagten Uraufführung des Violinkonzerts von Clara Iannotta
In den vergangenen Tagen entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, die Mitglieder der Essener Philharmoniker hätten sich geschlossen gegen die Aufführung des neuen Violinkonzerts von Clara Iannotta ausgesprochen. Dies entspricht nicht den Tatsachen. Bis zuletzt haben wir als Orchester versucht, die Uraufführung zu ermöglichen. Die Entscheidung über die Absage wurde von der künstlerischen Leitung getroffen und kam für uns überraschend.
Das Werk war als Auftragskomposition für das Festival NOW! vorgesehen und sollte im Rahmen eines regulären Sinfoniekonzerts uraufgeführt werden. Die vollständige Partitur und das Stimmenmaterial gingen jedoch erst zwei Wochen vor dem Konzerttermin ein; deutlich später als vereinbart. Es blieb keine Zeit, sich auf die besonderen Anforderungen des Werks vorzubereiten und offene Fragen mit der Leitung zu klären.
Der Einsatz der vorgesehenen Objekte und Spieltechniken – unter anderem das Streichen mit hochwertigen Bögen auf Styroporplatten – bedeutete einen erheblichen zusätzlichen organisatorischen und materiellen Aufwand. Solche Bögen kosten in der Regel mehrere tausend Euro. Ebenso sorgte der Einsatz von Steinen in unmittelbarer Nähe zu empfindlichen Streichinstrumenten für berechtigte Unruhe, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass diese beim Spielen oder Umblättern vom Pult fallen oder aus der Hand gleiten könnten. Es gab Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Instrumente und Arbeitsmittel, für die wir als Orchester in Eigenregie noch keine Lösungen fanden.
Die Orchesterleitung bat den Orchestervorstand daher um Unterstützung und um ein Stimmungsbild innerhalb des Orchesters. Es handelte sich ausdrücklich um ein vorläufiges Meinungsbild, um die tariflichen Regelungen zu Sonderinstrumenten und Objekten auf den konkreten Fall anzuwenden. Eine große Mehrheit der Musikerinnen und Musiker war bereit, die Uraufführung wie vorgesehen zu realisieren. Zugleich äußerten einige Kolleginnen und Kollegen berechtigte Bedenken, die in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht ausgeräumt werden konnten. Erschwerend kam hinzu, dass notwendige Abstimmungsgespräche teilweise zu spät angesetzt oder nicht in entscheidungsfähiger personeller Besetzung geführt werden konnten. Damit war ein echter Dialog oder eine gemeinsame Entscheidung kaum möglich.
Wir bedauern die entstandene Situation und die öffentliche Zuspitzung, die den Blick auf das eigentliche künstlerische Anliegen überschattet. Wir hoffen, dass das Werk von Clara Iannotta und die Bedeutung neuer Musik weiterhin im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen. Die Essener Philharmoniker engagieren sich seit vielen Jahren mit großem Einsatz für zeitgenössische Musik und neue Klangkonzepte – im Rahmen des NOW!-Festivals ebenso wie in anderen Konzertformaten.
Essen, Oktober 2025
Im Namen der Mitglieder der Essener Philharmoniker Orchestervorstand:
- Prof. Alexander Kritikos (1. Vorsitzender)
- Joachim Graf (stv. Vorsitzender)
- Natalie Arnold Karla Müller
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