Das Kölner Neue-Musik-Festival Acht Brücken wird gerne gelobt, aber nur halbherzig unterstützt. Dabei müsste eine Millionenstadt ohne vorzeigbare Pflege der zeitgenössischen Musik als kulturell verarmt gelten. Noch dazu eine, in der Stockhausen und Zimmermann, Ligeti und Kagel Wegweisendes angeschoben haben. Wem es in elf Jahren nicht gelingt, ein Opernhaus zu restaurieren, und wer in 15 Jahren kein neues Stadtarchiv aufbauen kann, könnte sich wenigstens zur Musik unserer Zeit bekennen. Festivalintendant Louwrens Langevoort schiebt daher Andrea Firmenich ins Rampenlicht, die Generalsekretärin der Kunststiftung NRW, die zur Eröffnung von Acht Brücken 2024 ihr Engagement für das Festival unterstreicht.
Bechers Bilanz – Mai 2024: Köln braucht Acht Brücken
Köln: Acht Brücken Festival (2)
Vom wohltemperierten Klavier zur Bağlama
Acht Brücken 2024 ergründet neben der Poppe-Musik auch die Mikrotonalität: „feine Unterschiede“ entlang der chromatischen Skala, Fenster in das Innenleben der Töne. In Westeuropa gibt es Mikrotonalität – abseits der Blue Notes im Jazz – fast ausschließlich als Zeitgenössische Musik. Daher lohnt ein Blick über die kulturellen Außenpfosten hinweg. Das Festival präsentiert ein Projekt, das Brücken schlägt zwischen Orient und Okzident, vom wohltemperierten Klavier zur Bağlama, aber auch von der Philharmonie in die Communities, von der Innenstadt in die Veedels. Der in Köln lebende Bağlama-Virtuose und Komponist Kemal Dinç zieht mit „Palimpsest“ am 9. Mai eine beeindruckende Fangemeinde in die Philharmonie. Ein Ensemble, das auf jedem Jazz-Festival Begeisterungsstürme entfachen würde, hier aber zu wenig Raum erhält, begleitet rund 150 Chorsängerinnen und -sänger. Sie sind die Attraktion. Der Sprechchor Dortmund wird verstärkt durch die Mitglieder mehrerer Kölner Laienchöre. Stark sind diese Chöre nicht in den unterkomplexen Moll-Passagen oder in den schwer verständlichen Sprechtexten; sie sind es dann, wenn sie Geräusche aus sich herausschütteln, die sich zu brodelnder Brandung auftürmen. Nach fast 90 Minuten Mosaik aus heterogenen Musiken und Texten greift Dinç höchstselbst zur Bağlama und zieht ein auf Türkisch gesungenes Resümee der unterschiedlichen Traditionen und Perspektiven, wo sich Sufi-Mystik neben Edgar Allan Poe niederließ. Die Communities nehmen das Angebot an. So divers ist das Publikum bei einem Neue-Musik-Festival selten.
Köln: „Elektra“ aus Stuttgart
Mord und Rache im Orchestergewitter
Das generationenübergreifende Mord- und Rache-Drama rund um den Raub der Helena erschreckt und fasziniert seit Jahrhunderten. Entfallen in „Elektra“ die düsteren Bühnenbilder (unvergessen jenes von Hans Schavernoch, wo das Bühnenpersonal um die Reste einer riesenhaften Agamemnon-Statue taumelte), bleibt einzig Richard Strauss‘ Musik, um zu verstören. Kein Problem für Cornelius Meister, der am 21. Mai „sein“ Stuttgarter Staatsorchester mit höchster Präzision dirigiert. Befreit aus dem Orchestergraben fahren die scharf geschnittenen Leitmotive zwischen die Gesangslinien nieder, zermalmen sie zuweilen (trotz behutsamer Streicheranzahl), wiegen sie aber auch zärtlich oder machen ihnen Tanzbeine. Das Grauen windet sich weniger aus Hofmannsthals wundervollem Text, als aus der Unerbittlichkeit des Klanggewitters. Dieses macht nur einen Bogen um Chrysothemis, und Simone Schneider singt die einzigen Kantilenen des Werkes herzergreifend und zugleich der hasserfüllten Schwester trotzend. Iréne Theorin ist eine kraftvolle Elektra, die den Kampf mit der Mutter ebenso selbstbewusst aufnimmt wie mit dem Orchester. Eine Heroine auf dem Höhepunkt ihrer Gesangskunst. Violeta Urmana schließlich hat an allen großen Häusern der Welt alle großen Partien ihres Fachs gesungen. Es braucht eine solche Sängerin für die Partie der Klytemnästra, in der jede Phrase Mitleid und Abscheu zugleich hervorruft. Die Sängerinnen und Sänger der Stuttgarter Produktion – hier sei noch die schön gestaltende 5. Magd, Lucia Tumminelli, herausgehoben – bespielen die Bühne der Kölner Philharmonie mit Lust und Stolz, das Publikum im zu Zweidritteln gefüllten Saal springt aus den Sitzen.
CD: „The Horse“ von Matthew Herbert
Bis auf die Knochen
In den Neunzigerjahren hat der Komponist und Produzent Matthew Herbert die britische House-Szene bereichert, Remixe für Björk und R.E.M. erstellt und die Debut-Scheibe der irischen Dance-Diva Róisin Murphy produziert. Der Mann interessiert sich nur wenig für die Instrumente des Abendlandes, er tüftelt lieber mit Tieraufnahmen, stellt Maschinen für stampfende Rhythmen her und sucht den Sound der Natur. Wie klingt ein Schwein, wie ein Pferd? Wie gebe ich beiden Würde zurück? Die im vergangenen Jahr erschienene, aber zu wenig beachtete CD „The Horse“ verbindet die hypnotische Kraft ostinater Rhythmen mit Forschergeist und unbändiger Klangfantasie. Aus einem Pferdeskelett gewinnt Herbert vorzivilisatorische Klänge, die sich zu schamanischen Tänzen verdichten und am Ende im schweißtriefenden Technoschuppen landen. Wenn er sich aus dem Pferdeknochen eine Flöte schnitzt, eine Trommel mit Pferdehaut bespannt, Rasseln aus zerschredderten Plastikpferden baut, schlägt er wie in Kubricks „A Space Odyssey“ einen Bogen über die Jahrtausende. Manchmal klingt „The Horse“ wie aus einer dunklen Höhle, man möchte wirklich nicht näherkommen; manchmal nach distanzloser Elektronik; dann wieder wie eine ECM-Platte. Der Höhepunkt ist aberwitzig: „The Horse Has A Voice“ kann jederzeit in den Clubs aufgelegt werden. Doch Herbert bleibt beim Pferd, ihm hat er eine Stimme verliehen.
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