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Donaueschinger Boundaries?

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Uraufführungen 2025/10
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Kunst- und Musikschaffende äußern sich idealerweise individuell, originell und frei von Vorschriften, Gängelei, Zensur. Genau solchen unabhängigen Stimmen soll Raum und Gehör geschenkt werden. Wer das nicht hat, schweige besser, statt mit Plattitüden anderen Platz wegzunehmen. Unter Leitung von Lydia Rilling betonen die diesjährigen Donaueschinger Musiktage diese künstlerische Ungebundenheit mit dem Motto „Voices Unbound“. Das macht stutzig.

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Denn was man so ausdrücklich herausstellt, versteht sich offenbar nicht von selbst, als würde man sonst austauschbare Dutzendware präsentieren oder Trends, Moden und Mainstream hinterherlaufen. Aber neue Musik sieht sich gegenwärtig tatsächlich einem wachsenden Rechtfertigungsdruck durch Politik und Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Immer unverhohlener wird der Nische die Bedeutung abgesprochen und die Unterstützung versagt. Selbst manche Musikschaffende empfinden die Freiheit der Kunst inzwischen nicht mehr als Privileg und Stärke, sondern als defizitär, weshalb sie ihre Arbeit mit politischen Agenden und aktuellen Querschnittsthemen aufladen.

„Voices“ im konkreten Sinn von Sing- und Sprechstimmen präsentieren die Musiktage vom 16. bis 19. Oktober nur bei zwei der insgesamt 23 Ur- und Erstaufführungen. Das Vokalsextett EXAUDI singt in Wechselrede mit Bratschistin Tabea Zimmermann die Kommunikation „Tell Tales“ von Georges Aperghis. Und Francesca Verunelli erkundet in „La nuda voce“ mit Hilfe der Sopranistin Johanna Varga den Kipppunkt, bei dem Vibrationen der Stimmbänder im Kehlkopf zu Gesang werden. Dem Festivalmotto zum Trotz, geht es dabei wohl eher um die physische Voraussetzungen als um Stimmen, die sich von allem Irdischen lösen. Handfeste Bindungen zeigen auch die anderen Kompositionsaufträge durch vorgegebene Abgabefrist, Besetzung und Dauer. Wie jedes Jahr bestreitet das SWR Symphonieorchester das Eröffnungs- und das Abschlusskonzert. Fast die Hälfte aller Uraufführungen sind daher Orchesterwerke. Der große Apparat birgt viele wunderbare Stimmen, die sich alle entfesseln lassen, ist in seiner Größe, Instrumentation, Klanglichkeit, Spielpraxis und dirigierten Koordination aber auch eine ungemein starke Setzung, die sich kompositorisch kaum zersetzen lässt.

An den konventionellen Konzertrahmen gebunden bleiben auch die meis­ten anderen Novitäten, etwa von Anna Korsun, Koka Nikoladze und Alexander Knupeev im Konzert „Tower of Babel“ des Klangforum Wien. Und schließlich muss gefeiert werden, das der SWR seit 1950 bis heute ein Dreivierteljahrhundert lang an den Musiktagen beteiligt ist.

Dazu remixt Turntablistin Miriam Rezaei ausgewählte Aufnahmen aus dem Festivalschallarchiv des Senders. Wo Veranstalter ausdrücklich Ungebundenheit, Freiheit, Wildwuchs propagieren, lohnt es sich, genauer hinzusehen und hinzuhören. Denn hinter der Proklamation „Unbound“ stecken in Wahrheit etliche „Boundaries“ all der Soundaries. Gleichwohl bleibt es umso spannender, ob es den diesjährigen Donaueschinger „Voices“ gelingt, all diese Bindungen zu erkennen und sich davon zu befreien. Also Leinen los!

Weitere Uraufführungen: 

  • 2.10.: Farzia Fallah, I did not paint the war. I lived the war für Ensemble Musikfabrik, Muziekgebouw aan ‘t Ij Amsterdam
  • 6.10.: Diego Ramos Rodriguez, neues Werk für Ensemble Modern, Alte Oper Frankfurt
  • 15.10.: Shasha Chen, Werk für Ensemble Avantgarde, Gewandhaus Leipzig
  • 16.10.: Nicolai Worsaae, neues Werk für SWR Vokalensemble, Liederhalle Stuttgart
  • 18.10.: Camille van Luenen, Morgenstern Album I für Knabenchor collegium iuvenum, Preisverleihung female* composers competition, Tübinger Motette
  • 24.10.: Juta Pranulyté, Fojan Gharibnejad, Armin Czervenák, neue Musiktheater-Miniaturen, Frankfurt LAB
  • 29./30.10.: Neue Werke von Studierenden der HfMT Köln beim Festival Orgelmixturen, Kunst-Station Sankt Peter Köln
  • 30.10.: Klaus Ospald, Epilog für Orchester, Haus der Musik Siegen
  • 31.10.: Sidney Corbett, Tintenfischlady – Musiktheater für Kinder und Erwachsene, Tischlerei der Deutschen Oper Berlin
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