„Wir sind noch nicht am Ende, es kann noch schlimmer kommen.“ Das sagte Adam Schaff 1998 in einem Interview der Zeitschrift „Information Philosophie“. Der polnische Philosoph war seit 1955 Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Polens gewesen und leitete ab 1963 das Wiener UNESCO-Institut „Europäisches Zentrum für Sozialwissenschaften“. Angesichts der in den 1990er-Jahren anhaltenden Instabilität nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erinnerte der Philosoph an den großen französischen Denker, Publizisten und Politiker Alexis de Tocqueville. Dieser hatte schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts davor gewarnt, dass diejenige Periode in der Geschichte einer Nation die gefährlichste sei, in der sich eine Gesellschaft aus einer Diktatur zur Demokratie befreie, weil die Menschen zwar schon sehen, wie schlecht die alten Zeiten gewesen seien, aber gleichzeitig von der Ferne der noch nicht erreichten neuen Zukunft gelähmt würden.

Letzte Seite der nmz 7/8-2025
Es kam viel schlimmer
Um diesen Zwischenzustand möglichst schnell zu überwinden, habe die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow eine Beschleunigung mit Glasnost und Perestroika versucht. „Und genau diese Beschleunigung“, so Schaffs damalige Einschätzung, „ohne ausreichende Mittel versehen, muss zurück in die Diktatur führen, in eine schlimmere Form der Diktatur als die vorherige.“ Tatsächlich gab es bereits seit 1991 unter dem ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin Repressionen gegen politische Gegner. Seit 1999 regiert nun Wladimir Putin in fünfter Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation zuzüglich zwei Amtszeiten als Ministerpräsident. Mit den eingeschworenen Nationalisten der Partei Einiges Russland überzieht er Land und Volk mit Terror und die Ukraine seit dreieinhalb Jahren mit einem blutigen Krieg, der auf beiden Seiten bisher insgesamt rund 270.000 Soldaten und etwa 14.000 Zivilisten das Leben gekostet hat. Außerdem nimmt Putins Großmachtstreben die einstigen Sowjetrepubliken Belarus, Georgien, Armenien und Aserbaidschan in die Klauen, versucht westliche Demokratien zu destabilisieren, Wahlen zu manipulieren, kritische Infrastruktur zu torpedieren und den Ostseeraum als Vorhof der eigenen Interessenssphäre zu dominieren. Der polnische Philosoph hatte mit seiner Prophezeiung offenbar recht: Es kam noch schlimmer.
Von Musik zu verlangen, sie solle auf Weltgeschichte reagieren oder gar etwas dagegen ausrichten, wäre ebenso vermessen wie der Vorwurf, sie sei nur unterhaltsame Ablenkung oder gar affirmative Begleitmusik zu Kriegen und Katastrophen. Stattdessen hat jedes Stück seinen eigenen Zeithorizont, der beim Hören die Möglichkeit bietet, sich selbst und das eigene Verhältnis zur Welt wahrzunehmen, zumal sich dieser auf einige Minuten beschränkte Horizont durch Beziehungen zu anderen Personen, Themen, Texten, Ereignissen, Epochen, Kulturen, Sprachen, Sparten und Stilistiken öffnet. Musik verlangt solch umsichtiges Hören. Und das ist eminent politisch. Erfahren lässt sich dies während des Sommers bei vielen Uraufführungen sowie Festivals in Monheim, Darmstadt, Stuttgart, Bad Kissingen und andernorts.
Weitere Uraufführungen
- 02.–06.07.: Monheim Triennale II – The Festival mit neuen Stücken und Projekten von Ludwig Wandinger, Anushka Chkheidze, Peni Candra Rini, Selendis Johnson, Peter Evans, Rojin Sharafi, Shannon Barnett, Shahzad Ismaily, Yuniya Edi Kwon und Muguata`a, Monheim am Rhein
- 05.07.: Charlotte Seither, neues Werk für Dietrich Henschel (Bariton) und Anne Le Bozec (Klavier), Liederwerkstatt Kissinger Sommer; Dariya Maminova, neues Orchesterwerk für Staatsphilharmonie Wiesbaden
- 11.07.: Saed Haddad, neues Chorwerk a cappella, Johanneskirche Freiburg
- 19.07.–02.08.: Internationale Ferienkurse für neue Musik Darmstadt mit zahlreichen Konzerten, Vorträgen, Diskursforen und auch Uraufführungen
- 19.07.: Johannes X. Schachtner, Sein ein Mensch, Stiller Appell für Horn, St. Egidien Nürnberg
- 12.07.: Arnulf Hermann, Spur und Umschrift für Klavier zu vier Händen, Georg Friedrich Haas, Les Espaces für Vierteltonklavier zu acht Händen, Musikfabrik im WDR Köln
- 26.07.: Sharif Sehnaoui und Amer Ali, neue Stücke für Neue Vocalsolisten, Theaterhaus Sommer in Stuttgart
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