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theater für niedersachsen: „Die Göttin der Vernunft“, im Bild: Ensemble. Foto: Jochen Quast

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Frauliche Pornopoesie: Hildesheim setzt mit „Die Göttin der Vernunft“ einen Höhepunkt des Johann-Strauss-Jubiläums

Vorspann / Teaser
Das Wiener Festjahr Johann Strauss 2025 zum 200. Geburtstag des Walzerkönigs konnte nicht alle Bühnenwerke bringen beziehungsweise für den woken Zeitgeist auffeaturen. So blieb es neben dem Münchner Gärtnerplatztheater mit „Waldmeister“ dem Theater für Niedersachsen vorbehalten, dort nach Oscar Straus’ Operette „Hochzeit in Hollywood“ und Emil Nikolaus von Rezniceks exzellent gelungenem „Till Eulenspiegel“ mit „Die Göttin der Vernunft“ einen Operettenfrosch des Bayerischen Rundfunks einzufahren. Der sich immer mehr zum Operettenspürfuchs in erster Reihe mausernde Regisseur Christian von Götz initiierte eine von Samuel C. Zinsli und dem Hildesheimer Ensemble mitentwickelte Textfassung. Er verlegte das Geschehen von der Französischen Revolution in das Jahr 1870 vor den Hintergrund des Deutsch-Französischen Krieges.
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Um 1870 sind die Abenteuer des freizügigen Figurenarsenals sogar weitaus pikanter als in der originalen Handlungszeit. Die Volkssängerin und Boulevard-Blüte Ernestine würde sich nur allzu gern halbnackt als Allegorie einer „Göttin der Vernunft“ und damit eines Sargnagels gegen den rückständigen Klerus und feudale Scheinmoral durch eine der Pariser Hauptkirchen tragen lassen. Um dieses Begehren ranken sich im eher peripheren Châlons natürlich eine Reihe Amouren, Handicaps und Pannen. 

Nebenbei gehört diese Produktion zu denen unter Intendant Oliver Graf, mit denen er Wiedergutmachung an den noch immer spürbaren Repertoire-Kahlschlägen des ‚Dritten Reiches‘ betreibt. Christian von Götz attackiert in seiner temporeichen Regie alles frivol und lieber ein- als zweideutig. Das Ensemble des Theaters für Niedersachsen beißt sich mit fetzender Energie an diesem Spielstoff fest und triumphiert mit der viel zu unbekannten Partitur. Nie war Johann Strauss näher an Jacques Offenbach, durch dessen Erfolge die goldene Wiener Operette das Laufen lernte, als in der am 13. März 1897 im Theater an der Wien erstmals erklungenen und schnell wieder verklungenen „Göttin der Vernunft“ auf das Libretto von Alfred Maria Willner und Bernhard Buchbinder. Aufführungsgeschichte verpflichtet: 1909 unterlegte Felix Salten, dem man gern die Autorschaft an der legendären „Josefine Mutzenbacher“ zuschreibt, die göttliche „Göttin“-Musik seiner Bearbeitung „Reiche Mädchen“. Seither war es eher still um Johann Strauss’ II letzte von ihm selbst vollendete Operette.

Von Götz und GMD Florian Ziemen betreiben vor den satten und analog zur Handlung teils anschmuddelnden Trikolore-Farben ein souveränes Operetten-Handwerk: Durchtrieben werden die Musiknummern nicht nur gesungen. Das Musiktheater-Ensemble mit einigen Grenzgängern vom Schauspiel spricht, ruft, jauchzt, seufzt und ächzt über und neben den Gesangsversen, wie es geschmeidiger nicht geht. Einziger Schwachpunkt ist mangelnde Textverständlichkeit. Im von Achim Falkenhausen weitaus diktionsgwandter als die Solisten einstudierten Opernchor des tfn werden die Frauen zu flotten Militärs und die Männer zu nach diesen Militärs sehr interessiert guckenden Frauen. Die Choreographie von Katharina Glas und die aufgedonnerten bis halbseidenen Kostüme von Amelie Müller nehmen diese kollektive Travestie als normalste Bühnenangelegenheit der Welt. Die Düsternis und das Donnergrollen der Realgeschichte merkt man trotzdem, aber dieses wird erfolgreich übertüncht von „Cherchez l’homme“.

Authentischer Operettengeist ist das – musikalisch glanzvoll und bewusst gewürzt mit etwas Schäbigkeit. Neben woken Bemühungen wie Nikolaus Habjans moralinsaurem „Wiener Blut“ am Aalto Theater Essen und der von Julien Chavaz in der Magdeburger „Clivia“ mit cooler Opulenz kritisierten Korruption gibt sich von Götz diesmal in der Ästhetik fast konventionell und dabei mit aufwiegelnder Frivolität. Das wäre vor einigen Jahren nichts Besonderes gewesen, wirkt aber im derzeitigen Klima doch ziemlich frech. Wichtig ist zudem, dass Ziemen mit eng der Szene angeschmiegten Tempi sehr operettenaffin agiert und alle Vorzüge mit klugem Brio zelebriert. Die tfn-Philharmonie wäre mit dem Kenntnisgeschirr derzeit sogar in der Strauss-Hochburg Wien eine kompetente Bereicherung, weil sie mit aus der Posse kommendem Geist aufspielt. 

Worum geht’s? Das muss nicht alles verraten werden. Im Zentrum steht Comtesse Mathilde, welche durch den mit ihr verwandten Herzog von Braunschweig und dessen schnittigen Hauptmann (Jan-Niclas Rohde) gerettet wird. Mathilde lässt nichts anbrennen und verarbeitet alle Erlebnisse in erotischen Romanen, welche sie in höheren Auflagen mit anschaulichem Bildmaterial auf den Markt des Zweiten und Dritten Kaiserreichs wirft. Und Neele Kramer wirft sich mit verführerischen Sopran-Reizen in diese Partie. Eddie Mofokeng gibt Captaine Robert, Mathildes nächstes physisches Experimentiermaterial, und zeigt als ganz hoher Bariton rundum betörende Eigenschaften. Gabrielė Jocaitė geht als Volkssängerin Ernestine mit Ambitionen zum allegorischen Supermodel auch in Worten, Taten, Tönen voll zur Sache. Julian Rhode spielt den Oberst Furieux mit Augenfunken so bezirzend wie mit der Stimme, Jan Kämmerer als Karikaturist Jaquino wirkt im Gestus wie eine zu tänzerischer Bestform auflaufende Daumier-Skizze. Tobias Hieromini (Gutsbesitzer Bonhomme) und Andrey Andreychik (Sergeant Pandore) ziehen überaus präsent weitere Handlungsstrippen. Einige Andeutungen fallen zum Theater-Standort und zum Königreich Sachsen, für dessen Kleinstaaterei Johann Strauss II durch eine Scheidung in Coburg durchaus Sympathien hatte. Am Ende hageln aus dem nicht allzu vollen Zuschauerraum begeisterte Zustimmung und Entzückensrufe. – Das Aufführungsmaterial kam übrigens mit Hilfe des tfn-Choristen Christian Pollack zustande, der dieses bereits für eine konzertante Aufführung mit CD-Einspielung in Žilina 2009 angefertigt hatte.