Den kleinen Besucherinnen und Besuchern der Kinderoper „Die Gänsemagd“ wurden bereits an der Garderobe weiß-gelbe Gans-Kappen ausgehändigt. Pünktlich um 15 Uhr öffnet sich die Tür und ein aufgeweckter Gänsehüter bittet das Publikum herein: „Aber nur auf die grüne Wiese, nicht auf die Straße!“

„Die_Gänsemagd“. Ida Aldrian und Hellen Kwon. Foto © Monika Rittershaus
Humorvoll, feinsinnig und mitnehmend: Tobias Kratzer inszeniert „Die Gänsemagd“ von Iris ter Schiphorst in der Opera stabile Hamburg
Diese befindet sich mittig auf dem Boden der Opera stabile, der Studiobühne der Hamburgischen Staatsoper. Die kleinen und die großen Gänse – äh, die Zuschauer – suchen sich also ein Plätzchen auf der Wiese aus (ein paar Großeltern haben einen Hocker angeboten bekommen) und schauen gespannt auf die Bühne – oder besser gesagt auf den beleuchteten Teil der 360-Grad-Kulisse, die rund um die Wiese aufgestellt ist.
Und wie schön und malerisch ist das Bühnenbild (Rainer Sellmaier)! Da merkt man sofort, dass hier mit viel Liebe zum Detail und hohen Qualitätsansprüchen gearbeitet wurde. Die Opera stabile ist nicht besonders groß und das Publikum sitzt sehr nah an der Kulisse.
Die Komponistin Iris ter Schiphorst hat zum Libretto von Helga Utz, nach dem Märchen der Brüder Grimm, eine Musik komponiert, die zwar zur Neuen Musik zählt, das Publikum jedoch weder erschreckt noch provoziert. Die vor dem Haus der Königin platzierte Instrumentalgruppe – Violoncello: Brigitte Maaß; Klarinette/Baßklarinette: Matthias Albrecht; Akkordeon: Igor Kritzman; Keyboard: Daveth Clark; Samples: Robert Göing – trägt maßgeblich zur magischen Atmosphäre der Märchenwelt bei und bleibt doch angenehm dezent. So können die hübschen Gesangsmelodien kindgerecht schlank, aber dennoch artikuliert und feinfühlig gesungen werden. Die Dirigentin (Claudia Chan), die oben auf der Kulisse steht und hinunterschaut, behält souverän den Überblick.
Die Idee einer Rundherum-Kulisse ist ebenso genial wie praktisch: Zum einen kommt man ohne Vorhang und Szenenwechsel aus, was für Kurzweiligkeit sorgt. Die Reiseetappen der Prinzessin – das behütete Zuhause, der lange Weg zum Prinzen ins ferne Land, zunächst fröhlich und später durch den unheimlichen, dunklen Wald, dann die falsche Identität, die von der Kammerjungfrau durch den Kleidertausch aufgezwungen wird, und schließlich die Ankunft beim König – finden auf unterschiedlichen Abschnitten der stegartigen Kulisse statt, die jeweils durch die stimmungsvolle Beleuchtung (Siegmund Hildebrandt) hervorgehoben werden. Zum anderen machen die Raumtrennungen auch die soziale Trennung zwischen den Gesellschaftsschichten begreifbar. Wer darf zum König, wer muss draußen bleiben? Wo ist der eigene Platz im Leben? Als Nebeneffekt stärkt die immersive Lösung zudem das Gruppengefühl des Publikums. Die Zuschauer müssen sich während der Vorstellung nämlich mehrfach kollektiv umdrehen, wie eine Gänseschar. So entsteht auf eine ganz natürliche Weise ein empathischer Umgang miteinander: Kann das kleine Kind, das jetzt hinter mir sitzt, noch etwas sehen? Sollte ich besser ein bisschen Platz machen?
Insgesamt hat die Inszenierung von Tobias Kratzer (Co-Regie: Matthias Piro) von „Die Gänsemagd“ eine große psychologische Tiefe. Die Figuren sind nicht nur bloß gut oder böse, hier wird niemand an den Pranger gestellt. Da ist die überfürsorgliche Königin, die aus Liebe handelt. Da ist die Kammerjungfrau, die genug von ihrer dienenden Rolle hat und auf leider falsche Weise ein besseres Leben sucht. Dann ist da der alleinerziehende König mit seinem in Büchern versunkenen Sohn, dem Prinzen, der seiner verstorbenen Mutter nachtrauert. Es ist faszinierend, wie subtil und doch verständlich die erstklassig besetzten Sängerinnen und Sänger – großenteils aus dem Ensemble der Staatsoper – die Gefühlswelt der jeweiligen Figuren durch Tonfarben, Gestik und Mimik zeichnen. Zu ihnen gehören Ida Aldrian (Prinzessin), Katja Pieweck (Königin), Hellen Kwon (Kammerjungfrau), Scott Wilde (König), Peter Galliard (Schlächter), Kürdchen Aebh Kelly (Gänsehüter) und Carlo Silvester Duer (Falada, das Pferd / Prinz).
„Die Gänsemagd“ ist auch eine Geschichte über Resilienz und Selbstfindung. Die Prinzessin verliert zunächst das Tuch mit dem Schutzblut ihrer Mutter und dann durch den Kleidertausch auch ihre Identität. In der Freundschaft mit dem Gänsehüter Kürdchen gewinnt sie jedoch an Eigenständigkeit. Ihr Pferd Falada bleibt ihr immer treu, selbst nachdem es geköpft wurde.
Freilich kann die Oper auch ohne viele philosophische Gedanken genossen werden. Tobias Kratzer transportiert die Botschaft mit viel Humor. Die Oper macht einfach Spaß! Die wesentlichen Handlungen werden kindgerecht und offen auf der Bühne gezeigt, beispielsweise die Szene mit dem Kleidertausch. Das Publikum wird in das Geschehen eingebunden, etwa wenn es auf der Wiese als Gänseschar schnattern darf. Es gibt witzige Momente, mit denen sich die Kinder identifizieren können, etwa wenn die als Prinzessin getarnte Kammerjungfrau Salami und Nutella zum Frühstück verlangt. Doch auch die archaische Kraft des Märchens kommt nicht zu kurz: Kindgerecht dosierte Gruselmomente – etwa der unheimliche Baum mit leuchtend roten Augen im dunklen Wald oder die Szene, in der der Schlächter den abgetrennten Pferdekopf hereinträgt – setzen wirkungsvolle Kontraste zu den heiteren Passagen.
„Die Gänsemagd“ ist große Kunst, die Kinder ernst nimmt und dadurch letztlich auch Erwachsene berührt. Zum Schluss wird das Publikum Zeuge von Tobias Kratzers feinsinnigem Regietheater. Das Happy End findet nicht in Form einer Hochzeitsfeier zwischen Prinzessin und Prinz statt, wie es in Märchen üblich ist. Stattdessen finden alle – nun von Zwängen befreit – auf ihre eigene Weise Glück und Liebe.
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