„Frischer Wind: Der junge Händel in Italien“ – so lautet das Motto der gerade begonnene Händelfestspiele in seiner Geburtsstadt Halle. Das von dem im Februar plötzlich verstorbenen Intendanten Bernd Feuchtner klug zusammengestellte Festspielprogramm folgt diesem Motto. Ob das auch für die Stadt mit neuem Bürgermeister und für die Festspiele mit ihrem jungen, neuen Intendanten Florian Amort gilt, wird man sehen. Die Premiere mit dem Festspielbeitrag der hiesigen Oper ging schon mal störungsfrei über die Bühne, nach dem ein Wasserschaden zur Verschiebung einer Premiere geführt hatte. Dass Romelia Lichtenstein als Titelheldin einmal vergeblich versucht, die Drehbühne in Gang zusetzen, war zum Glück nur ein hübscher, selbstironischer Kalauer.

Das heftig bejubelte Ensemble auf dem Sofa bei Händels „Agrippina“: v. l. Michael Zehe, Annika Westlund, Vanessa Waldhart, Christopher Ainslie, Ki-Hyun Park, Ks. Romelia Lichtenstein, Leandro Marziotte, Lars Conrad. Foto: Matthias Horn
Im Westen nicht Neues? Händels „Agrippina“ bei den Händelfestspielen in Halle
Die 1709 in Venedig uraufgeführte „Agrippina“ ist nicht Händels erste Oper, aber sein erster gefeierter Erfolg in Italien. Von da an ging’s bergauf. Musikalische Virtuosität mit den zeittypischen Arien-Schmankerln umranken eine Intrigenstory vom Feinsten. Heute könnte man aus der Vorlage mindestens eine kleine Netflix-Serie machen. Und die würde wirken wie aus den Hinterzimmern der Macht. Oder neuerdings wie aus dem Oval Office im Weißen Haus, wo die herrschenden Narzissten sich ja beim Dealen und Intrigieren live zuschauen lassen.
Hausherr Walter Sutcliffe hat die Geschichte um die ehrgeizige Agrippina, die unbedingt ihren Sohnemann Nero auf den Cäsarenthron hieven will, und dabei alle Register zieht, den Römern entrissen und nach Las Vegas verlegt. Da wird das alte Rom zum Spielkasino „Caesar Palace Entertainmant“ und der Kampf um den Caesarenthron heruntergedimmt auf einen Kampf ums Unternehmen. Aber ein totgeglaubter Kaiser (wie Claudius), der plötzlich wieder auftaucht und alle schon in Sack und Tüten manipulierten Nachfolgeregelungen zunichte macht, ist nicht ohne Verlust auf einen Firmenboss reduzierbar. Zumindest, nicht ohne dass nicht nur dem Kaiser bildlich gesprochen ein Zacken aus der Krone bricht. Auch wenn als (neuerdings gerne an den Zeitgeist gemachte Referenz) aus dem Agrippina-Helfer Narciso eine Narcisa wird, dauernd gekokst und gegrapscht und von Nerone auch mal gemännerstrippt wird, wirklich durchgängig gelungen als Las-Vegas-Story ist das nicht.
Dabei hatte sich der Intendant des Hauses (der sich die Chance des eigenen Regie-Zugriffs bei den Festspielen nicht aus der Hand nehmen lässt) für die Bühne diesmal einen Star der Branche nach Halle geholt. Alexandar Denić hat mit seinen Raumerfindungen einen stilbildenden Anteil an den Geniestreichen, mit denen sich Frank Castorf auch als Opernregisseur etabliert hat. In dieser Kombination ist Denić ein Genie seines Fachs. Punkt.
Für „Agrippina“ hat er ein (aus seinem Rahmen fallendes) eher artifizielles Objekt auf die Drehbühne gestellt. Mit dem Leuchtschriftzug Flamingo, einem Riesensofa, und einer Architektur, die an diverse Schalenbetonexperimente erinnert. Begrenzt durch Silberglamour im Hintergrund. Das dreht und blinkt so vor sich hin und wird vom Chor (Einstudierung: Bartholomew Berzonsky) bevölkert, der mit seiner Secondhand-Las-Vegas-Mode, die vor allem lasziv sein soll, irgendwie klar kommen muss (Kostüme: Frank Schönwald). Ein Clou bleibt die grandiosen Revuetreppe, die vor allem dann ihr Wirkungspotenzial entfaltet, wenn Romelia Lichtenstein von hier aus ihre Bosheiten vom Stapel lässt oder sich ausführliche Arien-Sorgen macht, ob ihre Rechnungen aufgehen.
Da die ganze Oper nach ihr benannt ist, geht es völlig in Ordnung, dass sich die Interpretin der Titelrolle als charismatische Zentrum behauptet. Man mag sich die Zeit nicht vorstellen, in der eine Lichtenstein in Halle nicht mehr den Maßstab für packende Händelvirtuosität vorgibt. Diese Sängerin hat sich nie auf Händel reduzieren lassen, aber immer die Flexibilität bewahrt, vorzuführen, wie man Händel als vokalen Genuss mit Tiefgang unters Publikum bringt. Außerdem ist sie eine perfekte Komödiantin – im Stück die Kanaille, aber eine, mit der man trotzdem sympathisiert, weil man sich über ihr Spiel auch tatsächlich amüsieren kann. Abgesehen vom kernig klaren Counter Leandro Marziotte als Nerone und Vanessa Waldharts souveräner, allseits begehrter Poppea bleibt das vokale Festspielniveau mehr anvisiertes Ziel als Ist-Zustand. Counter Christopher Ainslie ist ein geschmeidiger, aber verhaltener Ottone, Ki-Hyun Park setzt als Claudio vor allem auf Lautstärke. Der wohltimbrierte Lars Conard als Pallante, Annika Westlund als zum Showgirl mutierte Narcisa und der mit seiner Maske gestrafte Michael Zehe als Lesbo komplettieren das vom Publikum heftig bejubelte Ensemble. Am Pult des am Vortag mit dem Händelpreis ausgezeichneten Festspielorchesters stand mit Laurence Cummings, dem ehemaligen langjährigen Chef der Händelfestspiele in Göttingen, einer der versierten Barock-Spezialisten, dem die Hallenser Musiker willig folgten.
- Share by mail
Share on