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Alceste (v.l.n.r.): Algın Özcan ADMÈTE, Carolin Ritter ALCESTE, Chor. Foto: Aylin Kaip

Alceste (v.l.n.r.): Algın Özcan ADMÈTE, Carolin Ritter ALCESTE, Chor. Foto: Aylin Kaip

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Packend und eindringlich: Glucks „Alceste“ mit Opera Incognita im Klinikum Großhadern München

Vorspann / Teaser

Opera Incognita greift seit 20 Jahren ins große Musiktheater von „Aida“ bis Glass' „Akhnaten“: Oft vernachlässigtes Operngut versetzt das freie Ensemble mit imponierenden Personalressourcen aus dem oberbayerischen Dorfen an originelle Schauplätze Münchens. „Alceste“ in der französischen Fassung von 1776, in Originalsprache und in Verbindung mit einem Stammzellenspenden-Aufruf fand im Kasino des Münchener LMU Klinikum Großhadern statt. Für Regisseur Alexander Wiedermann und Dirigent Ernst Bartmann ist es nach „Armide“ (2005 in der Reaktorhalle) und „Orphée“ (2014 im Maximilians-Forum) die dritte Produktion einer Oper von Christoph Willibald Gluck.

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Das musikalische Niveau des 36-köpfigen Chors, des neunköpfigen Orchesters und des Solo-Ensembles von Opera Incognita um den Stern Carolin Ritter in der Titelpartie ist über jede Kritik und Mäkelei erhaben. Die fast vollständige und vor allem um Ballettszenen erleichterte Einstudierung wurde der maßvoll erhabenen und berstenden Emotionsenergie von Glucks Pariser Fassung von „Alceste“ (1776) weitaus besser gerecht als zum Beispiel die sich in formalen Ästhetizismus rettende Inszenierung von Sidi Larbi Cherkaoui an der Bayerischen Staatsoper aus dem Jahr 2019. Opera Incognita verwirklicht den Anspruch einer „Oper für alle“ an einem anspruchsvollen und trotz wissenschaftlich besiegelter Genialität gern gemiedenen Opernmonument. Die Anregung einer Mitwirkenden zur Registrierung für Knochenmarkspenden wurde von Klinik-Direktor Markus M. Lerch aufgegriffen. In den Pausen kann mich sich sofort registrieren lassen.

Die Kantine des Großklinikums im Westen Münchens hat funktionales Großbunkerflair – mit wenigen Sichtschlitzen ins Freie und Mosaiken auf Betonwänden. Die Essensausgabe wird zum Catering für die sechs erfreulich gut besuchten Vorstellungen. In der Pause ist die Spielfläche auch Foyer. Die Vorstellungen sind fast wie ein Tag der offenen Tür: Auf dem einen Kilometer langen Weg von den Nahverkehr-Haltepunkten über den Empfang durch die langen Gänge bekommt man einiges mit vom Klinikalltag.

Alexander Wiedermanns Regie nimmt durch einen stimmigen, unaufdringlichen und dabei dichten Flow gefangen. Sogar die Rettung der Königin Alceste aus der Unterwelt durch den zum maßvoll smarten Pharmavertreter umfunktionierten Heros Hercules (Robson Bueno Tavares) bleibt milde. Wiedermann bemüht fürs Kolorit weder die „Schwarzwaldklinik“ noch den zynischen Arzt-Longseller „House of Gods“. Er setzt die Begegnungen von Angestellten des Gesundheitswesens und Bedürftigen klar, deutlich und zugewandt. Dabei hat der phänomenal intonierende und akzentuierende Chor der Opera Incognita jede Menge zu tun. Kein szenischer Mikroaktionismus überlagert das Hauptgeschehen: Das imponierende Selbstopfer Alcestes, die für die Genesung ihres todkranken Gatten Admètes den Tod auf sich nimmt, und ihre von Glucks genialer Musik verdichtete Entscheidungsfindung entfalten sich in knapp drei Stunden mit hoher Konzentration.

Dass die Großhaderner Kantine im mittleren der drei Sitzpodien eine weiche, tragfähige und filigrane Akustik hat, erweist sich als gewaltiger Vorteil. Musikalische Unsicherheiten lassen sich da allerdings nicht kaschieren. Insofern ist die Gesamtleistung erst recht kolossal. Aylin Kaips überlegte Ausstattung nutzt das am Spielort vorhandene Material. Wenige signifikante Kostüme in Magenta signalisieren die Schwellen von Leben zum Tod und zurück.

In der kleinen Instrumentalbesetzung ist alles vernehmbar, was in guten Aufführungen von Glucks legendärem Opernfossil faszinierend wird. Wiedermann entwickelt berührende Charaktere und Situationen auch für die sensibel aufgewerteten kleineren Partien: die Kinder des Königspaares (Enisa Zor und Konrad Wilhelm Wendt), den trocken und damit sinnfällig akzentuierenden Manuel Kundinger als Oberpriester und die in glockenreinen Spitzentönen Empathie verströmende Johanna Schumertl als Évandre. An einem Bashing des Alcestes Selbstoper nach innerem Kampf annehmenden Admète ist Wiedermann nicht interessiert. Algin Özcan singt mit angenehmem, gut fokussierten Tenor einen liebevollen Gatten und Familienvater, der erfüllt von kindlicher Freude aus der Intensivstation heimkommt. Ein plausibles Konzeptkonstrukt also, das synergetisch auf Bartmanns Dirigat wirkt: Alceste schwebt nicht als Primadonnen-Drohne über allem, sondern mittendrin. Carolin Ritter hat alles für die oft heroinenhaft aufgedonnerte Partie, vor allem das aus Stimme und Persönlichkeit strömende, fürwahr Berge versetzende Leuchten. Ritter singt, atmet, gestaltet und bewegt in der Titelpartie mit ganz hohem Format und innerem Nachdruck. Bevor Hercule die Produkte von styx pharma unters Volk und mit Schmiergeld unter die Ärzteschaft bringt, überwindet Alceste nicht nur den Tod selbst, sondern auch die Angst vor diesem. So muss Musiktheater sein, egal ob in sicheren Spitzenhäusern oder auf den urbanen Wildbahnen von Opera Incognita.

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