Er wollte sich und dem Publikum die letzten bzw. ersten Dinge allen Seins erfahrbar machen. Indem er instrumentale Klänge mit elektronischen und europäische mit asiatischen Musiktraditionen verband, weckte und befriedigte er zugleich die menschliche Ursehnsucht, nach Jahrtausenden der Vertreibung aus dem Paradies wieder neu im Naturzustand und kosmischen Gesamtzusammenhang aufzugehen. In seiner halb-szenischen Klangzeremonie „Anâhata“ (1984–86) versuchte er jene Grundschwingung des Universums zu erlauschen, die Astronomen mittels Radioteleskopen im Milliarden Jahre alten Echo des Urknalls zu entdecken hoffen und die das alte Sanskrit-Wort des Werktitels „Widerhall“ meint.
Jean-Claude Eloy. Foto: Hao Li, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Auf der Suche nach der primordialen Welle – Ein Nachruf auf den französischen Komponisten Jean-Claude Eloy
Jean-Claude Eloy wurde 1938 in Mont-Saint-Agnan bei Rouen geboren. Bereits im Alter von zwölf Jahren war er Jungstudent am Pariser Conservatoire bei Darius Milhaud und Maurice Martenot, dem Musikpädagogen, Radioamateur und Erfinder des Ondes Martenot. Mit diesem elektromagnetischen Schwebungssummer machte er frühzeitig die für sein weiteres Schaffen wichtige Erfahrung von elektronischer Klanggenese und Transformation sowie von Klang als einem sowohl beliebig mikrotonal skalierbarem als auch stufenlos verfügbaren Kontinuum. Neben Komposition studierte Eloy am Conservatoire auch Klavier, Kammermusik und Kontrapunkt. Von 1957 bis 1960 besuchte er die Darmstädter Ferienkurse – wo ihn besonders Henri Pousseur beeindruckte – sowie bis 1963 Meisterkurse bei Pierre Boulez an der Musikakademie Basel.
Wie andere Komponisten seiner Generation sah sich Eloy zunächst den streng konstruktiven Methoden der seriellen Nachkriegsavantgarde von Boulez und Stockhausen verpflichtet. Nach kurzer Lehrtätigkeit an der University of California in Berkeley 1966 bis 1968 wandte er sich jedoch der rituellen Dimension von Musik zu. Er studierte asiatische Philosophien und Mythologien und reiste nach Indien und Japan. Auf Einladung von Karlheinz Stockhausen realisierte er 1972 im Studio für Elektronische Musik des WDR Köln sein erstes elektronisches Werk „Shânti“ (Frieden). Unter dem Einfluss der antiken Philosophie Heraklits sowie von Schriften über den Yogi Sri Aurobindo verschmolz er elektronische und konkrete Klänge zu einem zweistündigen Fluss.
Vorstellungen vom Kreislauf der Natur sowie von Reisen ins Innere der klingenden Materie und in das eigene Selbst bestimmten im Zuge der Esoterik-Welle der 1970er Jahre auch das Schaffen von Stockhausen, Gérard Grisey, Jonathan Harvey, Horațiu Rădulescu, Peter Michael Hamel und anderen. Wie andere Musikschaffende begeisterte sich damals auch Eloy für asiatische Kultur, Philosophie, Hinduismus, Buddhismus, Zen und Meditationspraktiken. Stockhausens Idee einer „Weltmusik“ folgend verband er abendländische und fernöstliche Traditionen. Gemäß der sich wechselseitig ergänzenden Grundprinzipien Ying und Yang des Dàoismus komponierte er 1977/78 im Studio für Elektronische Musik des Tokyo-Rundfunks (NHK) sein vierstündiges „Gaku-no-Michi“ (Das Dào der Musik) mittels konkreter Geräusche des japanischen Alltagslebens und rein synthetisch erzeugter Klänge.
Die meisten Werke Eloys sind Rituale und dauern wenigstens ein, zwei, zuweilen drei und mehr Stunden, um andere Zeithorizonte und temporale Erfahrung zu eröffnen. Durch reines Hören erschließen sie sich nur unzureichend, weil bei Live-Aufführungen auch kultische Instrumente, Gegenstände, Gesten, Körperhaltungen, Aktionsradien, Kleidung und Licht zu sehen sind. Entscheidend ist vor allem auch das räumliche Erleben der medialen Verschiedenheit und Verschmelzung der live-gespielten Instrumental- und gesungenen Vokalklänge sowie der elektronisch über im Raum verteilte Lautsprecher zugespielten Klänge. Im fast drei Stunden dauernden „Anâhata“ kombiniert Eloy die damals neueste Sample-Technologie mit zwei Sängern des japanisch-buddhistischen Mönchsgesangs Shômyô der Tendai-Sekte sowie drei Instrumentalisten der altjapanischen Hofmusik Gagaku, inklusive traditioneller Gewänder und Spielweisen. Hinzu kommen konkrete Klänge und der Perkussionist Michael W. Ranta mit zahlreichen asiatischen Schlaginstrumenten.
Tenor und Bariton singen fast eine Stunde lang abwechselnd Monodien, bevor sie sich zur Mehrstimmigkeit vereinigen und mit Elektronik und Tempelglocken eine neue Dimension erschließen. Der letzte Teil des überwiegend graphisch notierten und daher interpretatorische Spontaneität und Freiheit gestattenden Stücks beginnt mit einem großen Solo der japanischen Mundorgel Shô, das einen weiten Bogen zurück zu den atemhaften Klangwellen des Anfangs sowie voraus zum Schluss des Stücks spannt. Die Mundorgel wird aus- und einatmend gespielt, weshalb sie in der chinesischen und japanischen Mythologie so etwas wie ewige Wiederkehr und das Dào symbolisiert, den Einklang mit der Urkraft und Harmonie des Kosmos, die der Untertitel „Vibration primordiale“ beschwört. Am Ende rauschen Meereswellen als Symbol für die Urschwingung des Alls und das Elixier, aus dem einst das Leben entstand. Der Uraufführung von „Anâhata“ beim Festival Sigma in Bordeaux 1986 folgte die deutsche Erstaufführung bei den Donaueschinger Musiktagen 1990.
Eine spekulative Vereinigung von Mensch und Schöpfung suchte Jean-Claude Eloy auch in „Yo-In“ (1980). Nach der Uraufführung in Bordeaux sowie Folgeaufführungen in Paris, Avignon, Köln, Liège, Strasbourg, Amsterdam, Berlin und der Weltausstellung Expo 1985 im japanischen Tsukuba wurde das dreieinhalbstündige „Klangtheater für ein imaginäres Ritual“ auch beim Warschauer Herbst 1994 aufgeführt und mitgeschnitten. Die Aufnahme erschien 2011 auf vier CDs. Auch dieses Stück ist eine Art Zeitreise zum Anfang der Welt. Zeitliche und räumliche Resonanzen bzw. „Rückstrahlungen“ – so die Bedeutung des japanischen Titels – sollen die Ewigkeit des Weltalls erahnen lassen. Im „Elektronischen Studios des Instituts für Sonologie Utrecht“ verband Eloy einmal mehr elektronische und konkrete Klänge mit der umfangreichen Sammlung ostasiatischer Schlaginstrumente von Michael W. Rantas Asian-Sound Köln. Mittels konkreter Klänge von Maschinen, Werkzeugen, Donner, Wind, Wellen, Vogel- und Menschenstimmen samt elektronisch transformierten, teils extrem verhallten Klängen von Tamtam und silberhellen Zimbeln feiert das Werk unter fortwährendem Ein- und Ausschwingen in vier Akten die vier Tageszeiten: 1. Morgenruf und Flehen, 2. Vereinigung und Aufnahme, 3. Meditation und Kontemplation, 4. Exorzismus und Befreiung.
Während der 1980er Jahre war Eloy maßgeblich an der Gründung des „Centre d’informatique appliquée à la musique et à l´image (CIAMI) beteiligt, arbeitete dann jedoch fortan unabhängig von institutionellen Einbindungen in Forschung und Lehre. Auch alle seine Bücher und CDs brachte der Einzelgänger im Eigenverlag „Hors-Territoires“ heraus. Wären seine Partituren, Aufnahmen und Texte über einen Musikverlag vertrieben worden, hätte das der Verbreitung seiner Musik vermutlich mehr gedient. Aufführungen stehen auch die sehr langen Dauern seiner Werke entgegen, die keine andere Musik neben sich dulden, sondern komplette Konzerte für sich beanspruchen und überdies deren übliches Zeitmaß sprengen. In Deutschland wird die Rezeption zusätzlich erschwert, da die meisten seiner Texte nur auf Französisch vorliegen.
Weil Eloy verschiedene musikalische und religiöse Traditionen aus Indien, Japan und Tibet in seine Werke integrierte, wurde ihm zuweilen Ethnokolonialismus vorgeworfen. Heute spräche man eher von kultureller Appropriation. Derselbe Vorwurf traf einst auch Stockhausen, als er in den 1960er Jahren Klänge, Instrumente, Gesten und Stimmen verschiedener Kulturen in seine Musik integrierte. Vor dem Hintergrund des damals im Westen geringen Kenntnisstands über asiatische Musik und Philosophie ist indes entscheidender, dass Eloy, Stockhausen und andere seinerzeit den eurozentrisch verengten Musik- und Kulturbegriff weiteten und damit keine ausbeuterischen Kapitalisierungsabsichten verfolgten.
In den 2000er Jahren gastierte Eloy mehrmals auf Einladung von Christoph von Blumröder am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Köln, wo er Vorträge hielt und seine Werke bei Konzerten präsentierte. Seine Selbstdarstellung „From Kâmakalâ to Shânti“ erschien im Sammelband „Komposition und Musikwissenschaft im Dialog V (2001-2004)“. Im Alter von 87 Jahren ist Jean-Claude Eloy nun am 19. November nach langer schwerer Krankheit verstorben.
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