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Wolfang Rihm hält eile Rede. Das Foto zeigt ihn schräg von Vorne, hinter ihm an der Wand hängt im gleichen Winkel eine Plastik, die ihn in sehr ähnlicher Pose zeigt.

Wolfgang Rihm vor seinem eigenen Abbild in der Hochschule für Musik Karlsruhe. Er starb am 27. Juli 2024 in Ettlingen und hinterlässt neben seinem Werk von Weltrang inspirierende Erinnerungen. Foto: Charlotte Oswald

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Sein Maß finden, indem man es überschreitet

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Abschied vom Komponisten und Lehrer Wolfgang Rihm: Weggefährten erinnern sich
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Unter der Flut von Nachrufen auf Wolfgang Rihm in den Tagen nach seinem Tod am 27. Juli vermisste die Redaktion der neuen musikzeitung die Stimmen von denen, die ihn auch persönlich näher kennenlernen durften. Wir haben eine ganz subjektive Auswahl an Zeitgenossen und Wegbegleitern gebeten, mit uns eine Erinnerung an Rihm zu teilen. Bis Redaktionsschluss erreichten uns Texte von Márton Illés, Komponist und Schüler Rihms in Karlsruhe; von Andreas Rossmann, Kulturjournalist und Schulkamerad ­Rihms; von Mark Sattler, Dramaturg für die Moderne beim Lucerne Festival, der dort etliche Projekte mit dem Komponisten auf den Weg brachte und aus nächster Nähe dessen Wirken als künstlerischer Leiter der Luzerner Festival Academy verfolgen konnte, sowie nachfolgend von Wolfgang Lessing, Professor für Musikpädagogik an der Freiburger Musikhochschule: 

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Mit dem Tod Wolfgang Rihms verliert nicht nur die Musikwelt einen der herausragenden Komponisten der Gegenwart, sondern auch das INMM einen langjährigen Freund und Wegbegleiter. Erstmals trat der damals 26-Jährige im Jahre 1978 auf der 32. Hauptarbeitstagung des Instituts im Rahmen der Reihe „Forum junger Komponisten“ in Erscheinung. Von diesem Zeitpunkt an war er regelmäßig in den Konzertprogrammen der Frühjahrstagungen präsent. Eindrucksvoll in Erinnerung bleibt das ihm gewidmete Porträtkonzert, in dem der Pianist Bernhard Wambach 1999 zentrale Klavierkompositionen Rihms zu Gehör brachte.

Nach der Jahrtausendwende – Rihms herausragende Stellung unter den Gegenwartskomponisten wurde inzwischen auch von jenen nicht mehr bestritten, die seine ästhetischen Positionen nicht teilten – war sein Schaffen immer wieder Gegenstand von Vorträgen und Diskussionsrunden. So stand im Mittelpunkt der Tagung 2005 ein Doppelporträt, in dem Rihms Œuvre dem Werk Helmut Lachenmanns gegenübergestellt wurde. Wer erwartet hatte, dass in den Vorträgen altbekannte und von Anbeginn schiefe Gegensätze – wie dem zwischen dem „Verweigerer von Gewohnheit“ (Lachenmann) und dem „Spätromantiker“ oder „Neue Einfachheit-Rihm“ – beschworen würden, konnte überrascht feststellen, dass, ohne die offensichtliche Unterschiedlichkeit leugnen zu wollen, plötzlich unterschwellige Verwandtschaften zutage traten: Wenn Ulrich Mosch etwa darauf hinwies, dass die Dimension des Klanges für Rihm eine durchaus reale Körperlichkeit, eine „haptische Seite, etwas Greif- und Modellierhaftes“ besitzt, dann beschrieb er etwas, was im selben Vortragsblock auch Martin Kaltenecker zu Lachenmann anmerkte, wenn er dessen „energetische, ‚konkrete‘ Energie bei der Klangerzeugung“ hervorhob. Oder wenn Jörg Widmann zu Rihms 50-minütigem Orchesterwerk „Jagden und Formen“ anmerkte, dass ein Komponist, der sich in diesen abgründigen Strudel hineinbegebe, genau wisse, dass er „anders herauskommen wird, als er hineingegangen ist“, dann rührte er an eine künstlerische Erfahrung, die nahezu wortgleich auch Lachenmann anlässlich seines monumentalen Klarinettentrios „Allegro sostenuto“ beschrieben hatte.

Eindrücklich ist mir auf dieser Tagung auch Rihms vornehme Bescheidenheit in Erinnerung geblieben: Als in der abschließenden Podiumsdiskussion manche Diskutanten (Frauen waren nicht vertreten) mit einer überlegenen Kenntnis des Rihmschen Werkes aufwarteten und sich Werktitel zuwarfen wie Pingpongbälle, da meldete er sich freundlich zu Wort: „Die vielen Stücke, die Sie da nennen, die kennt doch niemand.“ Daraus sprach keine Koketterie, sondern die Sorge, dass hier über die Köpfe der Anwesenden hinwegjongliert und Wesentliches ungesagt bleiben würde.

Rihms Bedürfnis, verstanden zu werden – und zwar ebenso musikalisch-künstlerisch wie auch sprachlich-­intellektuell – offenbarte sich mir auch fünf Jahre später auf der Frühjahrstagung 2010, die unter der Überschrift „Neue Musik in Bewegung – Musik- und Tanztheater heute“ stand. Auf dieser Tagung gab es unter anderem auch einen Wolfgang Rihm-Block, in dessen Rahmen ich einen kleinen Beitrag mit dem Titel „Theater der Grausamkeit – Musikpädagogische Annäherungen an Wolfgang Rihms ‚Séraphin‘“ hielt. Unter anderem berichtete ich hier von einem Schulprojekt zu diesem Musiktheaterwerk und dokumentierte einige O-Töne von Schüler*innen nach der Erstbegegnung mit diesem Stück. Diese Reaktionen reichten von irritierter Faszination bis hin zu schroffer Ablehnung. Überraschend war für mich, wie ernst Rihm gerade diese Ablehnungen seiner Musik nahm. Mehrfach ging er auf die einzelnen Formulierungen der Schüler*innen ein – augenscheinlich wollte er sich nicht damit begnügen, sie als Hinweise auf Unerfahrenheit oder pubertäres Abgrenzungsverhalten zu nehmen, es ging ihm vielmehr wirklich darum, die Hörprozesse nachzuvollziehen, die zu diesen negativen Urteilen geführt hatten. Ehrlich gesagt, ein solches Ernstnehmen vermutlich flüchtig und spontan hingeworfener Reaktionen hatte ich nicht erwartet. Ganz sicher war hier keine gekränkte Komponisteneitelkeit im Spiel als vielmehr die echte Besorgnis, das, was ihn künstlerisch umtrieb, vielleicht nicht präzise genug geäußert zu haben. Ob es sich hierbei um Mittelstufen-Schüler*innen oder Musikwissenschaftler*innen handelte, schien ihm egal.

Diese kleine Szene hat mir drastisch vor Augen geführt, wie verkürzt das Bild vom instinktgetriebenen Vielschreiber Rihm war und ist. Es ist genauso falsch wie die des Öfteren bemühte Metapher, die den Komponisten mit einem permanent aktiven Vulkan vergleicht, dem es egal zu sein scheint, was mit seiner Lava geschieht.

Ich weiß nicht, bei welcher dieser Tagungen es war, dass Rihm darauf zu sprechen kam, wieso er überhaupt bereit war, sich immer wieder auf Veranstaltungen wie unsere Frühjahrstagungen einzulassen. Den genauen Wortlaut erinnere ich nicht mehr, aber dem Sinne nach sagte er: Ich bin nun mal ein beständiger und treuer Mensch – ich komme zu Euch, weil ich schon so oft bei Euch war und weil ich Euch schätze. Danke, Wolfgang Rihm.

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