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„Kein Klangkörper wie jeder andere“: 148 Komponisten legen mit offenem Brief für das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg nach

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Dem Einsatz der Dirigenten vom Vortag folgend, haben Hans Zender und 147 weitere Komponistinnen und Komponisten, deren Werke vom SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg uraufgeführt wurden, in einem offenen Brief gegen dessen Fusion mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR protestiert. Auch sie fordern den SWR-Intendanten Peter Boudgoust auf, „sich nicht länger im Dienste eines vorgeblich alternativlosen Subventionsabbaus als Totengräber einer Kulturinstitution von internationalem Rang zu verdingen.“

„Not in Our Name“ ist dieser zweite offene Brief überschrieben, den die ZEIT in ihrer heute erschienenen Ausgabe veröffentlicht hat. „Nicht nur in Donaueschingen, auf der ganzen Welt“ habe das Orchester den Komponisten der Gegenwart „Gehör und nicht selten einen Platz im Repertoire verschafft“, so die Unterzeichner, und habe so „Hören als Herausforderung und die Auseinandersetzung mit dem Neuen als existentielle Notwendigkeit begriffen.“ Mit der Koppelung neuer Kompositionen mit den Werken der Klassik, der Romantik und der klassischen Moderne sei auf diese Weise eine „von jeder pädagogischen Überfrachtung freie, sinnlich erfahrbare Schule des Hörens“ entstanden.

Ihre Gemütslage angesichts der Fusionsentscheidung fassen die Komponisten so zusammen: „Fassungslos mussten wir mit ansehen, wie in einem Land, das so gerne und voll Stolz für sich in Anspruch nimmt, eine Kulturnation zu sein, und dessen Kanzlerin noch unlängst die „Bildungsrepublik Deutschland“ ausgerufen hat, eine gebühren- finanzierte Rundfunkanstalt den Wert ihrer Orchester in barer Münze messen zu können glaubt und sich so dem Diktat einer Kommerzialisierung von Bildung, Kunst und Kultur beugt, gegen die als Bollwerk aufzutreten doch eigentlich ein Staatsvertrag die öffentlich-rechtlichen Sender verpflichtet.“

Heute am frühen Nachmittag wollen die Gegner der geplanten Fusion vor dem Abgeordnetenhaus des baden-württembergischen Landtags demonstrieren. Dort steht das Thema auf der Tagesordnung des Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und Kunst.

Der offene Brief im Wortlaut:

Not in Our Name

Sehr geehrter Herr Boudgoust,

am 28. September 2012 hat der Rundfunkrat des Südwestrundfunks (SWR) auf Ihren Antrag hin die Fusion des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg (SO) mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (RSO) beschlossen. Eine Umsetzung dieser von Ihnen initiierten und trotz erheblichen, auf triftigen Argumenten gründenden Widerstands unbeirrt vorangetriebenen Entscheidung würde das Ende der Selbständigkeit eines weltweit einmaligen Orchesters mit unverwechselbarem Profil bedeuten, und dies ausgerechnet 2016, im siebzigsten Jahr seines Bestehens.

Seit der Gründung im Jahre 1946 ist das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit inzwischen weit mehr als 400 Uraufführungen wie kein zweiter Klangkörper zur Stimme der Neuen und Neuesten Musik geworden. Seinen institutionellen Niederschlag hat dieses beispiellose Engagement für die zeitgenössische Musik bei den Donaueschinger Musiktagen gefunden, mit denen das Orchester von ihrer Neugründung im Jahre 1950 an untrennbar verbunden ist. Indem es dort Werke von Hans Werner Henze, Bernd Alois Zimmermann, Luigi Nono, Olivier Messiaen und zahllosen Anderen, zu denen sämtlich auch die Unterzeichnenden dieses offenen Briefes gehören, aus der Taufe hob, schrieb es Musikgeschichte.

Aber nicht nur in Donaueschingen, auf der ganzen Welt hat dieses Orchester uns, den Komponisten der Gegenwart, ein Forum geboten, hat unsere Werke ins Programm genommen, ihnen so Gehör und nicht selten einen Platz im Repertoire verschafft, hat Hören als Herausforderung und die Auseinandersetzung mit dem Neuen als existentielle Notwendigkeit begriffen in einem Konzertbetrieb, der durch eine Wiederholung des Immergleichen zu veröden drohte und an ihr bis heute krankt.

Ohne das klassisch-romantische Standardrepertoire und die Gipfelwerke der frühen Moderne zu vernachlässigen, begegnen sich in den Konzertprogrammen des SO seit jeher Klassiker und Zeitgenossen, Bekanntes und (noch) Unbekanntes auf Augenhöhe. Entstanden ist damit eine von jeder pädagogischen Überfrachtung freie, sinnlich erfahrbare Schule des Hörens: Traditionslinien treten hier klar hervor, ohne die Brüche zu verdecken, von denen auch die Geschichte der Musik nicht frei ist. Maßstäbe können endlich aus dem unmittelbaren Vergleich entstehen, genauso jedoch vermeintliche Gewissheiten erschüttert, Berührungsängste abgebaut und so manche Vorurteile hörend über Bord geworfen werden.

Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg hat durch seinen unermüdlichen Einsatz und dank programmatisch so profilierter Chefdirigenten wie Hans Rosbaud, Ernest Bour, Michael Gielen, Sylvain Cambreling und aktuell François-Xavier Roth nichts Geringeres erreicht, als der Moderne im Konzertalltag eine Heimstatt zu erspielen. Das war für das Publikum gewiss nicht immer ‚bequem‘, was die Konzerte aber auch nie sein wollten, und fordert durch die Konfrontation mit der Musik unserer Zeit bis heute gelegentlich viel von den Zuhörern, doch wusste das Orchester sich bei alledem stets im Einklang mit dem Bildungsauftrag des öffentlich- rechtlichen Rundfunksenders, dessen Teil es ist.

Fassungslos mussten wir mit ansehen, wie in einem Land, das so gerne und voll Stolz für sich in Anspruch nimmt, eine Kulturnation zu sein, und dessen Kanzlerin noch unlängst die „Bildungsrepublik Deutschland“ ausgerufen hat, eine gebührenfinanzierte Rundfunkanstalt den Wert ihrer Orchester in barer Münze messen zu können glaubt und sich so dem Diktat einer Kommerzialisierung von Bildung, Kunst und Kultur beugt, gegen die als Bollwerk aufzutreten doch eigentlich ein Staatsvertrag die öffentlich-rechtlichen Sender verpflichtet.

Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg ist kein Klangkörper wie jeder andere, es ist ein Orchester für Zeitgenossen, das, mit wachem Blick für die Avantgarde aller Epochen, stets aufs Neue anspielt gegen die allenthalben betriebene Musealisierung einer vermeintlich Klassischen Musik. Möglich macht dies nicht zuletzt die überragende stilistische und spieltechnische Kompetenz seiner Instrumentalisten für die Musik der Moderne insgesamt und die Klangexperimente der Gegenwart im Besonderen. Solche Fertigkeiten lassen sich nicht umstandslos in ein fusioniertes Riesenorchester implementieren, sie wären vielmehr unwiederbringlich verloren.

Wir fordern Sie, als Intendanten des Senders, sowie Gerold Hug, den Hörfunkdirektor des SWR, und den Rundfunkrat des Südwestrundfunks hiermit eindringlich auf, sich nicht länger im Dienste eines vorgeblich alternativlosen Subventionsabbaus als Totengräber einer Kulturinstitution von internationalem Rang zu verdingen, sondern die Fusionsentscheidung zurückzunehmen und es fortan als Ihre Aufgabe zu erkennen, den Erhalt eines künstlerisch eigenständigen SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg dauerhaft zu gewährleisten.

Hochachtungsvoll,

Michel van der Aa, Peter Ablinger, Carlos Roqué Alsina, Gilbert Amy, Mark Andre, Theodore Antoniou, Richard Ayres, Nikolai Badinski, Vykintas Baltakas, Klarenz Barlow, Franck Bedrossian, Peter Benary, Xavier Benguerel i Godó, Sir Harrison Birtwistle, Philippe Boesmans, Hans-Jürgen von Bose,
Pierre Boulez, Nikolaus Brass, Peter Michael Braun, Sylvano Bussotti, Aureliano Cattaneo, Friedrich Cerha, David Robert Coleman, Chaya Czernowin, Luis de Pablo, James Dillon, Paul-Heinz Dittrich, Andreas Dohmen, Pascal Dusapin, Dietrich Eichmann, Moritz Eggert, Jean-Claude Eloy, Peter Eötvös, Julio Estrada, Reinhard Febel, Dror Feiler, Brian Ferneyhough, Lorenzo Ferrero, Peter Förtig, Clemens Gadenstätter, Bernhard Gander, Ulrich Gasser, Rolf Gehlhaar, Frank Gerhardt, Sofia Gubaidulina, Georg Friedrich Haas, Saed Haddad, Peter Michael Hamel, Johannes Harneit, Werner Heider, Jörg Herchet, Franz Jochen Herfert, Arnulf Herrmann, Kenneth Hesketh, Hans-Joachim Hespos, Volker Heyn, Manuel Hidalgo, Anders Hillborg, Heinz Holliger, Josef Maria Horvath, Klaus Huber, Nicolaus A. Huber, Klaus K. Hübler, Karel Husa, James Ingram, Michael Jarrell, Ben Johnston, Betsy Jolas, Johannes Kalitzke, Gija Kantscheli, Dieter Kaufmann, Thomas Kessler, Wilhelm Killmayer, Marek Kopelent, Dmitri Kourliandski, Georg Kröll, György Kurtág, Hanspeter Kyburz, Helmut  Lachenmann, Bernhard Lang, Michaël Levinas, Liza Lim, Jonathan Lloyd, Jorge E. López, Dieter Mack, Mesias Maiguashca, Philippe Manoury, Bruno Mantovani, Yan Maresz, Laurent Mettraux, Wolfgang Mitterer, Marc Monnet, Wolfgang Motz, Detlev Müller-Siemens, Tristan Murail, Olga Neuwirth, Makiko Nishikaze, Michael Obst, Helmut Oehring, Klaus Ospald, Younghi Pagh-Paan, Brice Pauset, Krzysztof Penderecki, Robert HP Platz, Enno Poppe, Alberto Posadas, Martin Christoph Redel, Nicolaus Richter de Vroe, Rolf Riehm, Wolfgang Rihm, Yann Robin, Uroš Rojko, Peter Ruzicka, Frederic Anthony Rzewski, Kaija Saariaho, James Saunders, Rebecca Saunders, Raymond Murray Schafer, Iris ter Schiphorst, Dieter Schnebel, Tobias PM Schneid, Klaus Schweizer, Kurt Schwertsik, Martin Smolka, Daniel Smutny, Gerhard Stäbler, Manfred Stahnke, Johannes Maria Staud, Walter Steffens, Günter Steinke, Marco Stroppa, Hubert Stuppner, Paweł Szymański, Dimitri Terzakis, Hans Thomalla, Manfred Trojahn, Manos Tsangaris, Jakob Ullmann, Paul Usher, Caspar Johannes Walter, Jörg Widmann, Gerhard Wimberger, Heinz Winbeck, Róbert Wittinger, Hans Wüthrich, Jürg Wyttenbach, Franck Christoph Yeznikian, Fredrik Zeller, Hans Zender, Walter Zimmermann, Gérard Zinsstag

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