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Schmid: Opernhaus-Sanierung muss Arbeitsbedingungen verbessern. Foto: Oper Stuttgart
Premiere im Doppelpack: Stuttgarts Oper «Boris» verbindet zwei Werke. Foto: Staatsoper Stuttgart
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Premiere im Doppelpack: Stuttgarts Oper «Boris» verbindet zwei Werke

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Stuttgart - Zwei Werke zum Preis von einem? Könnte man meinen, zumindest bei der Stuttgarter Opern-Premiere «Boris». Denn verwoben mit Mussorgskys Volksdrama «Boris Godunow» wird das moderne Werk «Secondhand-Zeit» von Sergej Newski uraufgeführt. Ein spannendes Projekt.

«Wir sind das Volk», könnten sie auch singen, mal inbrünstig, mal wehklagend dort oben auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper, mehr als drei Stunden lang. Denn im Mittelpunkt der neuen Inszenierung «Boris», die am Sonntagabend Premiere feiert, steht nicht unbedingt der Titelheld des russischen Historiendramas aus der Feder Alexander Puschkins (1799-1837), Boris Godunow.

Zur Musik von Modest Mussorgsky - in der Urfassung von 1869 - und des Wahl-Berliners Sergej Newski dreht sich vielmehr alles um die manipulierbare und unterdrückte Gesellschaft, um das Schicksal des Einzelnen in der Masse des Volkes. Und nicht nur um die Individuen jener Zeit der Zaren und Intrigen, sondern auch um Geschicke aus der post-sowjetischen Periode.

Mussorgsky und Newski, eine Premiere als Doppelpack. Die eine Geschichte: Ende des 16. Jahrhunderts gekrönt, ist Zar Boris zeitlebens glücklos. Er kann sich nicht von dem Verdacht befreien, er habe den legitimen Thronfolger Dmitri ermorden lassen. Dessen Doppelgänger versucht schließlich, die Macht des Gewaltherrschers zu untergraben. Das Volk glaubt ihm, und auch Godunows Gegner unterstützen ihn. Der falsche Dmitri wird zum Zaren gekrönt; Godunow und seine Familie sterben.

Aber das Team um Regisseur Paul-Georg Dittrich bringt noch mehr auf die Bühne: es verwebt das russische Zaren-Drama - ungekürzt in der Urfassung und in russischer Originalsprache - mit der Uraufführung von Sergej Newskis «Secondhand-Zeit», nach dem dokumentarischen Werk von Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

Darin lässt die Weißrussin die Menschen aus dem post-sowjetischen Russland erzählen, aus einem Land in Zeiten radikaler gesellschaftlicher Umwälzung und politischer Wirren nach der Perestroika. Für die Autorin leben die Menschen dort in einer Zeit des «secondhand», der gebrauchten Ideen und Worte. Ihre Menschen aus dem 20. Jahrhundert erzählen «reale» Geschichen, einst tabuisierte Lebenserinnerungen aus den zurückliegenden Jahrzehnten.

Diese individuellen Schicksale stellt Dittrich auf der Bühne heraus. «Sie kristallisieren sich aus der großen Masse des Volkes», sagt der Regisseur, der in dieser Spielzeit auch an der Deutschen Oper Berlin, am Theater Bremen und am Staatstheater Darmstadt engagiert ist. «Wir setzen in der Inszenierung ein Mikroskop auf das Volk und vergrößern die kleinen Helden des Alltags.» Eine tadschikische Aktivistin kommt so zu Wort, ein jüdischer Partisan und ein Obdachloser, eine trauernde Mutter und die Frau eines Kollaborateurs. Newski vertont das Libretto, das aus der Textauswahl von Alexijewitsch basiert. Sein moderner Stil erinnert dabei an die klanglichen Verfremdungen von Helmut Lachenmann.

Bei Regisseur Dittrich ist Titelheld Boris (Adam Palka) zudem nicht länger eine historische Figur. Er steht vielmehr stellvertretend für viele Herrscher, die mit vermeintlich guten Absichten Gewalt nicht gescheut haben und ein Volk verführen, führen und blenden, bis es sich gegen sie auflehnt. Zugleich zeigt Dittrich aber auch einen selbstkritischen, gebrochenen Familienvater, der wie Atlas an der Schwere seiner politischen Verantwortung zugrunde geht. Das sei kein Phänomen vergangener Zeiten, sagt Dittrich, und verlegt den älteren Stoff in die Zukunft. Das Buch von Alexijewitsch und Newskis Libretto kommen ihm bei dem mutigen Versuch gerade recht.

So entstehen in «Boris» zwei Musik- und Zeitebenen, eine Art verzahnte und recht spannende Zeitreise, eine geschichtliche Doppelperspektive. Newskis Intermezzi in deutscher Sprache wirken dabei wie Erinnerungssplitter zwischen den einzelnen Mussorgsky-Tableaus. «Man muss sich das vorstellen wie in einem Filmschnitt», sagt Dirigent Titus Engel. «Wie im Tarantino-Film «Pulp Fiction», in dem mehrere Geschichten gleichzeitig erzählt werden.»

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