Nun war es wieder soweit. Die Wiesn rief. Und mit ihr erwachte ein urdeutsches Phänomen aus dem Dämmerschlaf: der Zusammenbruch der Volkspsyche in Echtzeit. Unter dem Deckmantel der Gemütlichkeit hat sich auf der Wiesn seit Jahrzehnten ein Klang-Inferno etabliert, das jedes Jahr beweist, dass Massensuff und künstlerischer Anspruch in einer toxischeren Beziehung stehen als Jägermeister und RedBull. In den heiligen Bierhallen, einst Orte des Maßhaltens, herrscht heute ein Tinnitus-induzierender Lärmteppich, gewebt aus den grenzdebilen Auswüchsen des deutschen Party-Schlagers. Ein vorsätzliches musikalisches Tiefflugmanöver über die letzten intellektuellen PISA-Reste vieler Zeltbesucher.
Sven Ferchow. Selfie
Debil kommt nicht von Dezibel
Kostprobe? Bitteschön: „Wie viele Hände hat der Oktopus? 100.000 Hände. Wie viele Hände hat der Leguan? 100.000 Hände. Wie viele Hände hat der Ameisenbär? 100.000 Hände“. Natürlich präsentiert von einer dieser dauergrinsenden „Party-Bands“, früher Kapelle genannt, die sich vor dem Auftritt auf Furzkissen setzen oder geriebene Zehennägel schnupfen, um sich mal richtig aufzuputschen. Die sich dann aber mit bemerkenswerter Selbstverachtung und bar jeglicher Selbstreflexion als „Musiker“ auf die Bierzeltbühnen schwingen.
Doch sie sind längst keine Interpreten mehr, sondern nur noch abgerockte Lärm-Animateure, die dem bereits benebelten Restverstand des „Oans, zwoa, gsuffa“-Mobs jene primitiven Frequenzen zuführen, die ein auf Firmenfeiern erlerntes wie komatöses Mitgrölen aktivieren und als Hirnkonfetti verkaufen. Dealer in Tracht.
Schlimmer als diese Kakophonie ist jedoch die tausendfach uniformierte Menschenmenge, die diesen musikalischen Müll erträgt und als Chor des Grauens die eigene Verblödung rhythmisch bejubelt. Weil sie offenbar mit dem Hineinschlüpfen in die C&A-Lederhose oder ins H&M-Dirndl sämtliche brauchbaren Gehirnzellen im Kleiderschrank zwischengeparkt haben. Sie nennen es Spaß, manche würden es Nachruf nennen. Denn eigentlich bejubeln sie ja nur ihren eigenen geistigen Tod.
Zusammengefasst: Was uns als zünftige Stimmung verkauft wird, zwingt selbst den abgebrühtesten Musikredakteur in die Knie. Denn in Wahrheit begegnet man auf der Wiesn dem konsequenten Niederwalzen jeglicher Reste von Melodik, Harmonik und Würde. Jeder Song ein Beschallungs-Imperativ für das offenbar geistig entmündigte „Oans, zwoa, gsuffa“-Kollektiv: Füße auf den Biertisch, Arme über den Kopf und die Zunge zur Seite drücken, bis das Weiße in den Augen leuchtet. Man könnte weinen, wäre man nicht damit beschäftigt, die vierte Maß Bier im Gleichklang mit „Wackelkontakt“ oder „Bella Napoli“ zu erbrechen. Nun. Zumindest hat die Wiesn der restlichen Kulturbranche im Land eines voraus. Man darf ungestraft von einem Kulturbetrieb sprechen, der sich aufgegeben hat.
Das Beste aber ist. Nächstes Jahr sind alle wieder da. Das ganze Brüllorchester der Selbstaufgabe. Na dann: Prost ihr Säcke. Prost du Sack. Komplett deppert samma. Zack zack zack.
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