Hauptbild
Alois Reinhardt, Daniel Stock, Julia Kathinka Philippi, Jacob Z. Eckstein. Foto: © Bettina Stöß

Alois Reinhardt, Daniel Stock, Julia Kathinka Philippi, Jacob Z. Eckstein. Foto: © Bettina Stöß

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Bechers Bilanz – Juni 2025: Die Verhältnisse sind nicht so

Vorspann / Teaser

Eine Utopie des Zusammenhaltes jenseits aller Divergenzen von Nationen, Rassen, Gesellschaftsformen und Haltungen könnte nicht dringlicher sein und zugleich weiter entfernt von heute: „Amerika, Land der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der Zusammengewürfelten: ich habe Dir diese Musik auf den Leib geschrieben. Du könntest ein Modell für die ganze Welt werden, wenn Du so lebtest, wie diese Musik es ankündigt. Wenn Du ein gutes Beispiel gäbest …!“ Also sprach Karlheinz Stockhausen 1971, anlässlich der Uraufführung von „Hymnen (dritte Region)“.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Köln: Stockhausen „Hymnen“

50 Jahre Utopie – uneingelöst 

Als Stockhausen in den späten 60er-Jahren im Elektronikstudio des WDR Nationalhymnen und politische Gesänge von links und rechts (!) raspelte und verkochte, stritt man noch über den Weg zu seiner Utopie des Zusammenhaltes. Das Argument, dass man sich nicht auf die Bedeutungsebene von Vorlagen berufen darf, wenn man diese in ihre Bestandteile zerlegt und seriell neu zusammensetzt, ist nicht von der Hand zu weisen. In „Hymnen“ aber bleibt das Material kenntlich. Die „Dritte Region“ mischt einerseits Orchester und Tonband, andererseits die Nationalhymnen der USA, der Russischen Föderation und Spaniens und rückt dabei zuweilen so nah an Jimi Hendrix‘ Woodstock-Attacke auf „Star-Spangled Banner“ wie auch an die hinreißenden Ives-Collagen, dass 45 Minuten wie im Fluge vergehen.

Auch weil Dirigent Maxime Pascal sie am 21. Juni im WDR-Funkhaus mit pantomimischem und tänzerischem Schwung auf das leidenschaftlich aufspielende WDR Sinfonieorchester überträgt. Gerade gegenüber den zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten (im Konzert erklangen noch Ur- und Erstaufführungen von Chaya Czernowin und Mauro Lanza) hat Stockhausen noch viel zu sagen. Die „Hymnen“ wollen nicht als Avantgarde von gestern abgeschrieben sein, sie sind sinnlich und klug, eine starke Utopie. Als Stockhausen die Tonbänder mixte, wüteten die USA in Vietnam, und in der Nacht, als sie im Rahmen von „Musik der Zeit“ (dem letzten von Patrick Hahn verantworteten Konzert) erklingen, befiehlt Trump Bomber in den Nahen Osten. Immer weiter rücken wir weg von „einer Einheit, in der Hass aufgehoben ist, weil alle feindlichen Elemente miteinander vermittelt werden“, um noch einmal Stockhausen zu zitieren. Nein, die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Bonn: Die Dreigroschenoper

Das Kriegstrauma von Mackie Messer

Die Demaskierung der kapitalistischen Verhältnisse in der „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill mag ein Jahrhundert nach deren Uraufführung verstaubt wirken. Doch das Publikum liebt einen Haufen frecher Kerle und verruchter Ladies auf der Bühne. Das Theater Bonn freut sich also über ausverkaufte Vorstellungen, ganz ohne Anbiederung an ein diverses Publikum. Dafür spitzt der Bonner Hausregisseur Simon Solberg (besuchte Vorstellung: 19. Juni) die Weimarer Räuberpistole wenigstens einmal ungemütlich zu. Im „Kanonenboot-Song“ bremst Dirigent Daniel Johannes Mayr das Tempo ab, wodurch dunkle Bedrohung in den sonst flotten Marsch hineinkriecht. Mackie Messer und Tiger-Brown tragen schwer an ihren Kriegstraumata. In der Zeile „Für die Armee wird jetzt wieder geworben“ bleibt ihre Platte hängen und das Theater Bonn rückt der Gegenwart auf die Pelle.

Die Kostüme von Christina Schmitt sind billig, aber sexy und nehmen das Stück durch zahlreiche Zirkuszitate auf den Arm. Ein paar Stahlgerüste mit Treppen lassen sich schnell zusammenschieben (Bühne: Harald Thor), orangene Scheinwerfer von hinten markieren den Mond über Soho und funkeln zur Gewaltfantasie der Seeräuber-Jenny. In der quirligen Polly von Julia Kathinka Philippi treffen sich Naivität und Durchtriebenheit auf faszinierende Weise. Daniel Stock spielt Macheath als dreckigen Gauner mit viel Geschrei und wenig Verführung. Özgür Karadeniz macht schließlich deutlich, in welches popkulturelle Universum die „Dreigroschenoper“ heute passt: Sein Jonathan Peachum erinnert als Spielmacher mit Esprit, Gewitztheit und Perücke an den „Pinguin“ aus Gotham City, der sogar das Publikum zum Mitsingen animiert. Apropos Gesang: Die „Dreigroschenoper“ ist ein Schauspiel mit Musik. Einverstanden. Doch mehr als eine Sängerin (Marie Heeschen als Lucy) wäre dann doch zu erwarten gewesen. Ausgerechnet in einem der musikalisch gelungensten Momente – dem Eifersuchtsduett – streicht das Team die zweite Strophe.

Köln: Abschiedskonzert Louwrens Langevoort

20 Jahre Philharmonie – eingelöst

Nach zwanzig Jahren Intendanz für die Kölner Philharmonie verabschiedet sich der Musikmanager Louwrens Langevoort so, wie man ihn kennt: inspiriert, augenzwinkernd, listig. Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die an diesem 29. Juni tadelnde bis verärgerte Klagen über die Demontage des „Acht Brücken“-Festivals weglächeln muss, lobt Langevoort für „die Öffnung der Philharmonie in die Stadtgesellschaft“ bei gleichzeitigem Bekenntnis zu musikalischer Qualität.

In den letzten zwei Jahrzehnten lud die Philharmonie – Mitglied der erlauchten European Concert Hall Organisation – die renommiertesten Orchester und Künstler nach Köln. Reker erwähnt aber auch Langevoorts „Spitzzüngigkeit“, die der Intendant für diesmal seinem Laudator Patrick Hahn überlässt, der mit leichtem Ton und treffsicheren Worten ein launiges Charakter- wie Berufsbild Langevoorts zeichnet. Die passenden Musikeinsprengsel für Hahns „acht Kapitel“ übernimmt am Klavier der Dirigent des Abends, Cornelius Meister, einer jener Künstler, deren Laufbahn Langevoort (als Opernintendant in Hamburg) anschob und begleitete.

Passend zum Anlass trägt auch das Programm des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin die Handschrift des stets für das Neue einstehenden Intendanten: zwei Werke, die die Geburtsstunde der Moderne markieren (Arnold Schönbergs Kammersymphonie op. 9 und Gustav Mahlers Vierte Symphonie) sowie „Puzzles and Games“ von Unsuk Chin. Die Komponistin hatte diese Suite für Sopran und Orchester 2017 aus „Alice in Wonderland“ im Auftrag von „Acht Brücken“ zusammengestellt. Das Werk verfehlt auch heute seine Wirkung nicht: quirlig, verspielt, mit großer Klangfantasie. Solistin Hanna-Elisabeth Müller beherrscht die große Operngeste ebenso wie charmantes Flüstern und trifft damit den skurrilen Humor von Chins Opernerstling. Ein Kabinettstück, ebenso umwerfend wie „Mysteries of the Macabre“ von Chins Kompositionslehrer György Ligeti. Das DSO fühlt sich bei diesem Werk wie bei Mahlers Vierter deutlich wohler als mit der Kammersymphonie, Soloklarinette und -oboe wie auch die gesamte Kontrabassgruppe seien dank ihrer Spielfreude und Präzision hervorgehoben.

Köln: Asasello-Quartett

Brutalität des Kontrapunkts

Jahr für Jahr stellt das 2000 in Basel gegründete, seit langem in Köln heimische Asasello-Quartett einen Konzert-Zyklus zusammen, der sinnlich, emotional und intellektuell überzeugt und viel Publikum verdient hätte. Stattdessen trifft man sich am 6. Juni im Sancta Clara Keller beim Kölner Römerturm, einem historischen Gewölbe aus dem 13. Jahrhundert, das gut 100 Besucher fasst. Vier Rundbögen halbieren die rechteckige Grundfläche und sorgen dafür, dass die Steinwände nicht zu viel und nicht zu wenig Klang reflektieren. Die Akustik im Keller ist top, die Vorbereitung des nach einem satanischen Störenfried aus Bulgakows „Meister und Margarita“ benannten Quartetts ebenso. Musik der Zwanziger Jahre steht aktuell auf den Programmen, das Motto lautet: „Wir und die Schöne Neue Welt von Gestern“. Die Großschreibung verknüpft George Orwells negative Utopie mit Stefan Zweigs Resignation. Die Kunst darf ob der Verhältnisse die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, einem Politiker wäre zuzurufen: „Reiß Dich zusammen!“

So wie Alfredo Casella, der in seinen „Fünf Stücken für Streichquartett“ 1920 zum Tanz bittet – wobei sein Foxtrott erdenschwer umhertappst, anstatt lasziv zu locken –, in zwei langsamen Sätzen aber mit rotgeränderten Augen auf die Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg blickt. Die unerschöpfliche Farbvielfalt des Asasello-Quartetts kommt auch „Húr-tér II“ (2019/25) des ungarischen Komponisten Márton Illés zugute, über dessen Musik ein dickes Wolltuch gelegt scheint, dessen Löcher nur gelegentlich Figuren durchlassen. Darunter brodelt es. Dann holen die Asasellos tief Luft und arbeiten sich durch Beethovens Streichquartett op. 130, das mit der Großen Fuge, deren Kontrapunkt sich seine unzumutbare Brutalität bewahrt hat. Die vier spielen mit zwei Jahrhunderten Streichquartett-Wissen. Da blitzt die Musik von Illés ein zweites Mal auf wie die von Haydn, Mendelssohn und Webern. Ein selbstbewusster Einstand in eine aufregende Kölner Streichquartett-Saison.

Köln: London Symphonie Orchestra

Glocken vom mediterranen Marktplatz

Einmal im Jahr besucht das London Symphony Orchestra die Kölner Philharmonie, diesmal unter der Leitung von Antonio Pappano am 1. Juni. Gute Laune, Lässig- und Nahbarkeit herrschen in diesem Orchester, über die Kleiderordnung wird im Notfall großzügig hinweggesehen und zwischen den Stücken griemelt man über die kleinen Witze des Pultnachbars. Sobald aber der Chefdirigent am Pult steht, herrscht Konzentration, hier auf Hector Berlioz: Mit der Ouvertüre „Le Corsair“ beginnt das Programm, mit der „Symphonie fantastique“ endet es.

Pappano betrachtet diesen Repertoirehöhepunkt nicht aus der Perspektive von Richard Strauss, sondern aus der Jacques Offenbachs: Hier herrscht einerseits nackte Lebensfreude – noch die unheilverkündenden Glocken am Schluss stammen von einem mediterranen Marktplatz –, andererseits eine wohlige Lust am Grusel, insbesondere in den fragilen Pianostellen der „Scène aux champs“ oder in der hexenhaften Kirmesmusik. Manch Instrument drängt sich zu laut in den Vordergrund, aber wo wären starke Effekte nicht mehr am Platze als bei Berlioz? Zumal im Zentrum des Konzertes ohnehin ein feinsinniges und kunstvoll gewebtes Violinkonzert des polnischen Komponisten Karol Szymanowski steht. Wir nehmen es an diesem Abend gerne als sensiblen Einspruch gegen die Präsidentenwahl eines Europa-Skeptikers im Lande des Komponisten wahr. Ganz in schwarz betritt die Bühne Lisa Batiashvili, die den silbrigen Ton der Musik ebenso beherrscht wie ihre züngelnde Chromatik, die aber nie im Vagen bleibt. Jeder einzelne Klang der georgischen Geigerin wirft sich in die Arme des Nächsten, sie spielt das Werk, das nicht zum Standardrepertoire gehört, mit sattem Ton und zündet noch eine (natürlich!) georgische Zugabe. Eine Musikerin, die sich seit Jahren darum bemüht, das kräftezehrende Tourneeleben im Zaum zu halten, nicht Haltung und Leidenschaft zu verlieren. Nicht den Verhältnissen auf den Leim zu gehen.

Ort