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Musik ist in Duisburg-Marxloh alles andere als eine Einbahnstraße!. © Ralf-Thomas Lindner

Musik ist in Duisburg-Marxloh alles andere als eine Einbahnstraße!

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Bühne ohne eisernen Vorhang – ein Stadtteil lebt auf!

Vorspann / Teaser

Neue Konzertformate (und gern auch ein neues Publikum) sucht man seit einiger Zeit allerorten. Der „Erfolg“ unseres angestammten Konzertbetriebes zwingt uns geradezu dazu. Einen ganzen Stadtteil zur Bühne zu machen, ihn zu musikalisieren und ihn über musikalische Erlebnisse und Erfahrungen zum Ort positiver menschlicher Begegnungen zu machen – das ist nicht alltäglich. In Duisburg-Marxloh ist dieses Konzept nun schon zum wiederholten Mal ein voller Erfolg geworden!

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„Toll, dass Du da unbeschadet wieder herausgekommen bist“, sagt ein Kollege, als er hört, dass ich in Duisburg-Marxloh gewesen bin, um für diesen Text zu recherchieren. – Ja, Marxloh ist sicher ein ziemlich schwieriger Stadtteil, manche sehen in ihm auch eine No-Go-Area: Clan-Kriminalität, eine sehr hohe Zahl an Gewaltdelikten und auch anderen Straftaten, begleitet von Armut, Arbeitslosigkeit und Integrationsproblemen, dazu massive Müllprobleme, die das Stadtbild alles andere als vorteilhaft präsentieren. Der Ausländeranteil liegt hier bei über 60 Prozent – explosives Potential für manche Meinungsverschiedenheit.

Marxloh ist aber auch der Ort, an dem bereits 1936 – lange vor Berlin und Hamburg – die Currywurst erfunden wurde. Eine schier unüberschaubare und oft fremdartige gastronomische Landschaft lässt die Papillen auf der Zunge jubilieren. Unzählbar viele Brautmodengeschäfte gibt es vor Ort, die ihn quasi zum deutschen Zentrum der Brautmode werden lassen. Dazu Läden mit wunderbarem – für deutsche Verhältnisse fast protzig wirkendem – (Gold-)Schmuck, der ja in viele Gesellschafen zur sozialen Absicherung der Braut gehört. Der hohe Ausländeranteil mit seinen Wurzeln in über 90 unterschiedlichen Kulturen ist in Marxloh zentral mitverantwortlich an einem geselligen Miteinander und einer farbenfrohen kulturellen Vielfalt.

Die Stadt nimmt ihren Problemstadtteil im Norden wahr und will ihm mit vielfältigen Aktionen einen besseren Ruf verschaffen. Wie so oft bietet sich ein kulturell motivierter Zugang zur Bevölkerung an. Über das Hören der Musik des Anderen und das Erklingenlassen eigener Musik kann man die Seele des anderen hören und die eigene Seele in ihrer besonderen Verletzlichkeit mutig zu Gehör bringen. Die Duisburger Philharmoniker versuchen mit dem von ihnen angeregten „Marxloh Music Circus“ bereits seit 2023 die Vielfalt des Duisburger Nordens hörbar zu machen. Pate für diese Veranstaltung stand die 1967 entstandene „Komposition“ „Music Circus“ von John Cage.

„Music Circus“ ist alles andere als eine klassische Komposition. Vielmehr steht hinter Cages Music Circus die Idee eines lebendigen Ereignisses, einer Einladung für eine beliebige Anzahl von Musikern mit beliebigen Instrumenten, die bereit sind, zur selben Zeit und am selben Ort etwas aufzuführen – in einer Art, die ihnen persönlich am meisten zusagt. Die Idee ist eine Art „Happening“, bei dem alles gleichzeitig vorstellbar und unvorstellbar ist. – Der Regisseur des Marxloher Happenings, Ludger Engels, beschreibt es so: „Die Stadtlandschaft wird als Bühne genutzt.“ Eingeladen zu diesem Happening sind Musiker vor Ort, lokale Profis, Laien und Musikbegeisterte, um ihre Musik zu präsentieren.

ἔρχομαι

Man mag fragen, warum sich gerade die Musiker der Duisburger Philharmoniker, die ihre eigentliche Heimstatt ja in der Mercatorhalle und im Theater Duisburg haben, in besonderer Weise bei diesem Marxloher Music Circus engagieren. Der Intendant der Duisburger Philharmoniker, Nils Szczepanski, geht zurück zu den Wurzeln und leitet den Begriff „Orchester“ aus dem Altgriechischen her: „Im alten Griechenland war das ‚orchestra‘ (abgeleitet von dem Verb ἔρχομαι [Anm.: erchomai] für ‚gehen‘, ‚kommen‘, ‚öffentlich erscheinen‘, ‚beginnen, da zu sein‘) der Platz vor der Bühne als Brücke zwischen Szene und Publikum, wo der Chor tanzte, sang und das Theatergeschehen kommentierte. Das ‚orchestra‘ war immer auch ein gesellschaftlicher Simulationsraum: Unter freiem Himmel wurden politische und metaphysische Themen ebenso reflektiert wie allgemeine Fragen des menschlichen Daseins.“

Szczepanski unterstreicht, dass „das Engagement der Duisburger Philharmoniker als ‚Orchester des Wandels‘ und ihre auf die vielfältigen Stadtgesellschaften abgestimmte Programmatik in dieser Tradition stehen. Die Herausforderungen an eine in ihrem Selbstverständnis schöpferisch tätigen und werdenden Kulturinstitution haben sich durch die Covid-19-Pandemie zugespitzt: Der Orchesterraum muss wieder eröffnet werden, im wörtlichen Sinne in Form der Hauptspielorte Mercatorhalle und Theater Duisburg, aber auch im übertragenen Sinne, als ein gesellschaftlicher Raum, der sich allein mit und durch die Musik öffnet. Wie der Chor im griechischen Theater geht es darum, einen Platz abzuschreiten, den es ohne diese musikalische Bewegung nicht gäbe.“

Wie klingt Marxloh?

Der „Marxloh Music Circus“ ist – wie man neudeutsch sagt – ein echtes „Event“, mit vielen Beteiligten und auf einem großen Areal. So ein Event bedarf intensiver Vorarbeiten und dann einer guten Dramaturgie und Regie. Dieser sowohl intensiver wie extensiver Arbeiten hat sich ein fünfköpfiges Team angenommen: der aus Duisburg stammende Regisseur Ludger Engels, der Bağlama-Spieler, klassische Gitarrist, Komponist, Arrangeur und „community musician“ der Duisburger Philharmoniker, Koray Berat Sari, die indische Rabindra-Sangeet-Sängerin Kamalini Muskherji, die iranische Musikethnologin Yalda Yazdani und der Jazz-Gitarrist Mahan Mirahab.

Zum einen musste sich das Vorbereitungsteam spannenden Fragen stellen, wie zum Beispiel: „Gibt es bisher ungehörte Schnittpunkte zwischen den Klängen einer orientalischen Laute und denen des örtlichen Gesangvereins?“ oder „Welche kreativen Prozesse werden bei der Begegnung von klassisch-westlicher Kammermusik und dem anatolischen Volkstanz ‚Halay‘ freigesetzt?“. Auf der anderen Seite galt es, um die bereits bestehenden Partnerschaften ein großes Netzwerk zu weiteren lokalen Musikern, Vereinen und Kulturinstitutionen aufzubauen und die gemeinsame Arbeit zu bewahren, zu stabilisieren und zu vertiefen.

Neben all diesen eher philosophischen, technischen und kommunikativen Aufgaben, stand aber letztendlich natürlich die Musik im Mittelpunkt! Über Wochen und Monate hatten die Duisburger die Möglichkeit, in Workshops die Schnittpunkte unterschiedlicher Klangkulturen zu erkunden. Dabei wurden in kleinen Projektgruppen Programme entwickelt, die zum großen Fest wortwörtlich auf die Straße gebracht werden sollten. Dabei stand im Hintergrund immer wieder auch die Frage, welche Themen und Musiken für die Menschen im Duisburger Norden relevant waren. Am Ende aber durfte man sich freimütig am Wort Szczepanskis orientieren: „Jede und jeder ist eingeladen, mit einem Instrument oder mit der Stimme teilzunehmen. Wir sind offen für alles – auch Tanz. Alle, die zum Marxloh Music Circus kommen, sind eingeladen, ihr Instrument mitzubringen. Es gibt drei Jam-Sessions, bei denen jeder mitspielen kann.“

28. Juni 2025

Es gibt Daten in der Weltgeschichte, die heute fast jeder herbeten kann und weiß, was an diesen Tagen geschehen ist, wie etwa in der aktuellen Weltgeschichte den 24. Februar 2022 oder den 7. Oktober 2023. Wir tun gut daran, derartige Daten in unseren Herzen zu tragen und nicht zu vergessen! Gleichzeitig und parallel dazu – und ohne einen der genannten Termine in irgendeiner Weise kleinreden oder relativieren zu wollen – brauchen wir Menschen gute Erlebnisse und positive Erfahrungen, die den tiefen Kern unseres Wesens ansprechen und ausmachen. – Der 28. Juni 2025 ist allerhöchstwahrscheinlich kein Tag, der in die Weltgeschichte eingehen wird, an dessen Datum sich im kommenden Jahr noch jemand wird erinnern können. Und doch ist er ein grandioses Beispiel dafür, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft trotz aller Unterschiede gemeinsam leben und feiern können, Musik machen und Musik hören können. Die Botschaft, die man aus Marxloh vernehmen könnte, ist, dass ein Staat nicht nur (!) Industrie, Wehrhaftigkeit und Feindbilder benötigt, sondern auch ästhetische Eindrücke. Die Kraft der Musik (neben vielen anderen ästhetischen Phänomenen) kann dabei Grenzen überwinden und uns wieder zu im Kern „menschlichen“ und „humanen“ Wesen werden lassen. Der Marxloh Music Circus ist hier ein höchst gelungenes Beispiel dafür, wie und dass man Hass und vermeintliche Verschiedenheit überwinden kann! Man bedenke: Feinde sind Freunde, die man noch nicht kennengelernt hat!

Am 28. Juni 2025 sind in Marxloh viele und vielfältige Musiker auf die Straße gegangen, um zu zeigen, was sie in den vergangenen Wochen vorbereitet haben. Ein buntes Spektakel und ein wanderndes finales Open-Air-Konzertfest, das sich von der Bühne am August-Bebel-Platz durch die Straßen und Sträßchen, vorbei an Plätzen, Plätzchen und durch Hinterhöfe, rund um das Pollmann-Eck wieder zu seinem Ausgangspunkt hin zurück bewegte – fast sechs Stunden non-stop Musik. Ein Stadtteil zeigt sich und wird vernehmbar! Orte, an denen vielleicht Verbrechen geschehen, an denen Menschen ihrem Tagwerk nachgehen, Kinder Abzählreime praktizieren und Himmel-und-Hölle spielen, werden zu einer großen und friedlichen Konzertbühne, die Raum bietet für ein bewusst alle menschengemachten Grenzen überschreitendes Programm. Der Zuspruch zu dieser Veranstaltung war enorm – viele Menschen, die über Stunden von einem Ort zum anderen mitgegangen sind, mitgefeiert und miterlebt und am Ende ein neues und fröhliches Bild von ihrem Stadtteil gewonnen haben.

Musik irgendwo zwischen orientalischer Laute, anatolischem Volkstanz, indischen Songs, Flamenco und abendländischer Barockmusik. Eine Aufzählung der Akteure kann nur ein unvollständiges Bild der Vielfalt und Farbigkeit der Veranstaltung geben – der örtliche Duduk-Verein, die Alevitische Gemeinde Hamborn, die kurische Tanzgruppe „Afir“, der in der rumänischen Community beliebte „Fabijan Balkan Brass“, das Kinder- und Jugendtheater „Spieltrieb“, die Emanuele Soavi Tanzcompany, das Inner Unity Ensemble, das soziokulturelle Zentrum Stapelfeld und viele mehr – natürlich auch die Mitglieder des Duisburger Philharmonischen Orchesters.

Ausblick

In der kommenden Spielzeit will Szczepanski einen Schritt weitergehen. Waren die Projekte des Marxloh Music Circus bisher eher kammermusikalisch und eben auf Marxloh zentriert, so soll einerseits der „transkulturelle Austauschprozess“ auf die gesamtorchestrale Ebene gehoben werden, andererseits auch ein Kennenlernen von klassischen Duisburger Konzertbesuchern und Marxloher Circusmenschen stattfinden. Dazu planen die Duisburger Philharmoniker mit den Projektpartnern ein gemeinsames Konzert, für das Arrangements und Neukompositionen von transkulturellen Werken in Auftrag gegeben werden könnten – sowohl an klassische wie nicht-klassische Komponisten aus europäischen wie außereuropäischen Kulturen, mit erkennbarem Bezug zur Stadt Duisburg, ihren Menschen und Themen.

Die neu komponierten bzw. arrangierten Werke werden mit den Duisburger Philharmonikern in Marxloh zur Aufführung gebracht. In Teilen sollen diese Werke aber auch am Residenzort des Orchesters in der Mercatorhalle aufgeführt werden. Dadurch können und sollen unterschiedliche Menschen und ihre Musik(en) an neuen Spielorten, aber auch im angestammten Konzertumfeld zusammenfinden.

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Musik ist in Duisburg-Marxloh alles andere als eine Einbahnstraße!. © Ralf-Thomas Lindner

Musik ist in Duisburg-Marxloh alles andere als eine Einbahnstraße!

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