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Monat der zeitgenössischen Musik in Berlin mit Neuer Orgelmusik eröffnet. Foto: Stefan Drees

Monat der zeitgenössischen Musik in Berlin mit Neuer Orgelmusik eröffnet. Foto: Stefan Drees

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Neue Orgelmusik: Das Ensemble gamut inc eröffnete den diesjährigen Monat der zeitgenössischen Musik in Berlin mit neuer Orgelmusik

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Mit einer Veranstaltung des AGGREGATE-Festivals in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde am 13. September der diesjährige Monat der zeitgenössischen Musik eröffnet. Bereits zum neunten Mal geben in den vier Wochen bis zum 12. Oktober unter dem Dach der initiative neue musik berlin unterschiedlichste Künstler:innen, Ensembles und Veranstalter:innen an etlichen Spielorten der Stadt anhand von Konzerten, Installationen, Performances und partizipativen Projekten Einblicke in den großen Facettenreichtum der zeitgenössischen Berliner Musikszene.

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Es war ein starkes Signal, das an diesem Abend vom geschichtsträchtigen Ort der sehr gut besuchten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ausging: Die Eröffnungsveranstaltung des Monats der zeitgenössischen Musik 2025, ihrerseits Teil des AGGREGATE-Festivals, stand ganz im Zeichen aktueller Entwicklungen der Neuen Orgelbewegung. Anlässlich des fünfjährigen Jubiläums erweiterten die Initiatoren des Festivals, das aus der Musikerin Marion Wörle und dem Komponisten Maciej Ĺšledziecki bestehende Ensemble gamut inc, das Spektrum präsentierter Arbeiten über rein automatisierte Orgelmusik hinaus. In einem dreigeteilten Programm kamen neue und bestehende Werke des Ensembles zur Aufführung, die von einer Komposition des dänischen Klangkünstlers Mads Kjeldgaard für computergesteuerte Orgel sowie von mehreren Stücken der schottischen Komponistin, Organistin und Performerin Claire M Singer flankiert wurden.

Erweiterung musikalischer Horizonte

Gleich mehrfach ließ sich an diesem Abend das vernehmen, was Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson eingangs in ihrem kurzen Grußwort plastisch als Charakteristikum zeitgenössischen Komponierens heraufbeschwor: das „Poetische und Fantasievolle des ersten Moments“, das aufregende Abenteuer einer Begegnung mit dem Neuen, das uns durch seine prinzipielle Unvorhersehbarkeit fordert. Tatsächlich gelang es allen Stücken des Abends unabhängig von der jeweils vorherrschenden Ästhetik, neue Hör- und Erfahrungsräume aufzuspannen – Erfahrungsräume, die, einerseits geprägt von den besonderen architektonischen Qualitäten des Kirchenraums, andererseits getragen von den eindrucksvollen Möglichkeiten der großen Karl-Schuke-Orgel mit ihren fast 6000 Pfeifen in 63 Registern, über das normale Konzerterlebnis hinaus auf die Erweiterung musikalischer Horizonte zielten.

So ließ sich Mads Kjeldgaard für seine Komposition „Hyphal“ durch Wachstumsprozesse von Pilzen anregen, die er mittels Anwendung diverser Algorithmen simulierte und auf der computerisierten Orgel zu Klang werden ließ. Das Stück entwickelte sich auf der Grundlage charakteristischer, zunächst simpel anmutender Tonfolgen, Akkordrepetitionen und Rhythmen, deren kontinuierliche Überlagerung im weiteren Verlauf zunehmend an Komplexität gewann und sich zu einer labyrinthischen, permanent veränderlichen Klangskulptur aus miteinander konfligierenden Aktionsschichten verdichtete.

Im Anschluss präsentierte gamut inc neben älteren Arbeiten gemeinsam mit dem Organisten Sebastian Heindl ein neues Stück, bei dem durch Verzahnung von Computer und Orgel ein Regelkreis hergestellt wurde: Die Belegung der Orgel mit gleichsam übermenschlichen Kaskaden, Clustern, Wirbeln und Wellen provozierte Reaktionen des Organisten, dessen Improvisationen wiederum im Computer Aktionen triggerte, die zurück auf die Orgel geschickt wurden. Wie sich bei diesem interaktiven Dialog zwischen Mensch und Maschine der Orgelklang im Kirchenraum allmählich zu enormer körperlicher Präsenz verdichtete, gehörte zu den spannendsten Momenten des Abends.

Potenzial für Zukünfige

Clair M Singers spezieller Zugang zur Orgel äußerte sich abschließend in harmonischen Texturen, deren Obertonspektren und Klangfarben ständigen Wandlungen unterworfen waren. Die lang gehaltenen, durch festgestellte Tasten unterstützten Klangbänder und gemächlichen Akkordwechsel ihrer Musik steckten voller Schwebungen und Eintrübungen, deren zahlreiche Feinheiten sich u.a. dem experimentellen Umgang mit dem Anschlag verdankten. Dennoch konnten mich die dargebotenen Stücke nicht restlos überzeugen: Bei allem Reichtum im Detail blieben die übergeordneten harmonischen Progressionen, Fortschreitungen und Klangwechsel oft allzu leicht voraussagbar; zudem waren alle Stücke einer identischen Dramaturgie verpflichtet – beginnend aus dem Nichts, zu einem Höhepunkt von Dynamik und Klangdichte strebend und anschließend wieder ins Nichts verschwindend –, was im Nacheinander zu einer gewissen formalen Eintönigkeit führte.

Insgesamt zeigte der Abend allerdings, welche vielfältigen und überraschenden Wirkungen das Instrument Orgel hervorbringen kann und welches Potenzial für zukünftige Musikschaffende der Bereich der Orgelmusik birgt. Stellvertretend für den gesamten Monat der zeitgenössischen Musik ließ das Eröffnungskonzert zudem schon einmal erahnen, was der Blick ins Programm für die kommenden vier Wochen bestätigt: Dass das durch Kürzungen des Kulturetats gefährdete zeitgenössische Musikschaffen ein beständiger, enorm wichtiger Teil der kulturellen Identität Berlins ist und – die akute Dysfunktionalität der Hauptstadt in vielen Bereichen des täglichen Lebens überstrahlend – ganz entscheidend zur Attraktivität des Standorts beiträgt.

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