Vom 24. August bis 21. September 2025 feiert das 27. George Enescu International Festival in Bukarest den 1955 in Paris verstorbenen Namensgeber und überdies zahlreiche Jubiläen von Komponierenden und Klangkörpern. Das ist angesichts des reichen Materials für Erinnerungskultur nicht schwer in der Klassischen Musik, wo man immer häufiger neben runden Zahlen auch Dezennien und halbe Dezennien als Jubel- und Event-Anlässe in Szene setzt. Beim alle zwei Jahre stattfindenden Enescu-Festival überwältigt eine Fülle von Veranstaltungen mit hohem Anteil von Moderne und Neuer Musik: Beiträge landeseigener Ensembles, aus Nachbarländern und internationale Gäste, darunter viele aus Deutschland. Am 7. September gab es fünf Konzerte, am 8. zwei – mit beglückenden und spannenden Einsichten.

Enescu Festival Bukarest. Foto: Alex Damian
Weltoffene Klassik-Party: Das 27. Enescu Festival Bukarest reiht Höhepunkte
Das Enescu-Festival ist neben einer Vorstellung von dessen 1936 in Paris uraufgeführter Oper „Oedipe“ in der Rumänischen Nationaloper Bukarest durch zahlreiche konzertante Aufführungen ein verkapptes Opernfestival: Rameaus „Dardanus“, Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ erstmals vollständig in Rumänien, Strauss’ „Salome“, Ravels „L'heure espagnol“... Kein Wagner, der mit einer überaus lebendigen Präsenz in den Nachbarländern Bulgarien und Ungarn zum Zug kommt. Dafür ist die Aufführung von zwei anspruchsvollen Opern an einem Nachmittag rekordverdächtig. Es erklangen Mozarts „Zauberflöte“ von 13.00 Uhr bis 16.00 Uhr im Konzertsaal des Rundfunks und die erst vor kurzem an der Berliner Staatsoper und der Oper Dortmund herausgekommene Beckett-Vertonung „Fin de partie“ des 99-jährigen Ungarn György Kurtág von 16.30 bis 18.30. Zwei große Würfe hintereinander.
Mozarts Oper geriet durch die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und Chorwerk Ruhr (Leitung: Michael Alber) zu einer stellenweise überraschenden Sternstunde. Die vor allem vom Sympathieträger Papageno servierten Dialog-Einsprengsel in englischer Sprache waren nicht modisch, sondern nötig. Das rumänische Publikum kannte den Text Emanuel Schikaneders immerhin aber so genau, dass es vor Papagenos knapp verhindertem Selbstmord „Drei!“ rief – ohne Anleitung oder Aufforderung von Seite des Ensembles. Überhaupt wurde das mit genau drei Stunden sehr genau gesetzte Opernvergnügen über den Kampf von Gut und Böse um den Sonnenkreis ein ganz großes Mozart-Wunder: Der erst 25-jährige Tarmo Peltokoski dirigierte stilsicher, wendig, geschmeidig und mit frühromantischer Expression. Romain Gilberts szenische Arrangements für das Podium waren klar, direkt und an keiner Stelle überzeichnet – aber auch nicht von jener kalauernd zuckerigen Witzsucht, die so manche „Zauberflöte“ zur Qual macht.
Punktgenaue Einrichtung Mozarts emanzipatorischer Utopie
„Wäre ich doch in Budapest statt Bukarest“, ruft der schweizerisch-ungarische Bariton Aeneas Humm und alle lachen. Humm ist schon jetzt DER Papageno seiner Generation schlechthin. Er hat einen charmanten, klugen Witz und singt, als wäre er der für Pamina vorgesehene Prinz. Perfekt und genau auf der Partie hat Humm auch vokalen Adel. Das traf für viele weitere in der insgesamt erfreulich jungen Besetzung zu: Elsa Dreisig macht nach ihren gefeierten Bravour und Belcanto-Partien die brutalen Bewährungsproben ausgesetzte Pamina zu einer starken Frau mit dramatischem Glanz, ohne dass Dreisig die lyrische Basislinie je verlassen würde. Mauro Peter passt auch nach langjähriger Erfahrung als Tamino noch immer ideal in dieses Ensemble. Manuel Winckhler als Sarastro mit sachlichem Machtgen und der überaus sympathische Sprecher von Marcell Bakonyi setzen eine passgenaue Priesterspitze. Andreas Conrad ist ein wendiger Monostatos. Eine starke Mittellage und sensationell kraftvolle Sicherheit in den Koloraturkaskaden verbindet Kathryn Lewek als auf der ganzen Welt begehrte Königin der Nacht. Ohne um Genderkorrektheit bemühte Korrektive am Textbuch akzentuierte Gilberts unspektakulär punktgenaue Einrichtung Mozarts emanzipatorische Utopie mit klaren Akzenten. Inklusive einer kurzen Pause kam die Aufführung, bei der nur eine Vogelfänger-Strophe gestrichen wurde, auf genau drei Stunden – kürzer geht es nicht. Es war auch deshalb eine ideale „Zauberflöte“, weil dem Publikum Phantasieraum und geistige Eigenleistung ohne trendige Regie-Gängelei gestattet blieben. Das Ensemble sang die zur Entstehungszeit üblichen Appoggiaturen und genehmigten sich maßvoll stilgerechte Freiheiten, welche der Lebendigkeit zugute kamen.
Bukarest verfügt über eine Reihe imposanter Konzertsäle. Im Foyer des Concertele de la Sala Palatuloi, einem nüchternen Großgebäude mit großer Veranstaltungsbandbreite, sind Instrumente ausgestellt, welche Interessierte auch ausprobieren können. Das 1888 eröffnete Ateneul Román ist ein historistisches Pantheon mit Rundfresken zur rumänischen Geschichte und kleinen Sitzgruppen um das Parkett. Das Ateneul war Zirkus, Abgeordnetenhaus, Kino und besteht jetzt als Konzerthaus der Staatsphilharmonie George Enescu. Sogar im Areal dieser Kulturbauten mitsamt Konzertsaal im Kunstmuseum kontrastieren repräsentative Flächen, Hotels und eindrucksvolle Geschäftsviertel mit Leerstand und schmerzlich ruinösen Altbauten. Das aufregend lebendige und vielgestaltige Stadtbild spiegelt sich in Haltung und Verhalten des Publikums. Alle Festivalveranstaltungen – auch zu Extremzeiten – sind gut besucht, aber nur selten ausverkauft. Wechsel auf bevorzugte Plätze werden deshalb gern spontan praktiziert. Bei schwierigen Stücken findet der vorzeitige Aufbruch mit kultivierter Stille statt. Die Mischung von Bevölkerungsgruppen wirkt vielseitig, das Publikum im Durchschnitt weitaus jünger als in Deutschland. Und es gibt noch mehr Überraschungen: Bei György Kurtágs Oper „Fin de Partie“ mit dem packenden Frode Olsen in der zentralen Partie des Hamm klingt die George Enescu Philharmonie unter Arnaud Arbet weitaus vitaler und üppiger, insgesamt also mehr dem schwierigen Opus zugewandt als die mit analytisch trockener Schönheit spielende Staatskapelle Berlin zur Premiere in der Lindenoper im Winter 2025.
Zur glutvollen Überwältigung wurde auch das Konzert der Moldawischen Philharmonie von Iasi. Im ersten Teil spielte Răzvan Popovici die Viola-Soli aus Enescus von Mihail Secichin orchestriertem Konzertstück für Viola und Klavier, darauf Arioso et Allegro des wie Enescu in Paris lebenden rumänischen Komponisten Stan Golestan in der Orchestration von Flaviu Mogoșan. Popovici faszinierte mit bescheidenem Auftreten und überwältigender Emphase. Seine konzentrierte Energie und die Fähigkeit zu gestaltender Eindringlichkeit machten seinen Auftritt zu einem Höhepunkt des Festivals. Nach der Pause dirigierte Jiří Rožeň die zweite Sinfonie Enescus an ihrem Uraufführungsort, dem Ateneum. Das fast einstündige Werk vereint ein im deutschen Repertoire von Richard Strauss bekanntes Stimmenflirren mit der dichten Melodizität und epischen Satzentwicklung etwa von Sergei Rachmaninoff. Ein Bravourstück also mit effektvoller Instrumentation, in dessen Verlauf sich düstere, distinguierte Züge Raum schaffen. Am Tag darauf setzte das hr-Sinfonieorchester unter seinem Chefdirigenten Alain Altinoglu eine seidig brillante Wiedergabe von Schostakowitschs achter Sinfonie nach einem in filigraner Lyrik genommenen Sibelius-Violinkonzert mit dem hervorragenden Solisten Julian Rachlin.
Noch bis 21. September dauert der internationale Star- und Philharmonie-Reigen in der rumänischen Metropole. Für Besucher aus Mitteleuropa erweisen sich die Gastspiele aus osteuropäischen Ländern weitaus spannender als die Gastspiele der hierzulande bekannteren mitteleuropäischen Spitzenklangkörper. Festival-Intendant Cristian Macelaru, derzeit Artistic Partner des WDR-Sinfonieorchesters Köln und Muskdirektor des Orchestre National de France in Paris, hat seine Präsenz bei westeuropäischen Orchestern bestens genutzt und für das 27. Enescu-Festival eine hoch achtbare facettenreicher Mischung von Alter bis Neuer Musik kombiniert. Der sympathische Kulturmarathon von Bukarest hat nur einen Nachteil: Für die vielen kleineren Theater und zahlreichen Museen im Schatten des gigantomanischen, unter Diktator Ceaușescu errichteten Parlamentspalastes bleibt bei dieser Veranstaltungssdichte zu wenig Zeit.
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