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Konzert „Mentorenprogramm EnsembleleiterInnen“ UdK Berlin. Foto: F Stoff
Konzert „Mentorenprogramm EnsembleleiterInnen“ UdK Berlin. Foto: F Stoff
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Fatale Wege in eine Öde ohne Musik

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Musikunterricht in Zeiten der virologischen Imperative · Von Carl Parma und Jürgen Oberschmidt
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Wie wären die letzten Monate der Pandemie ohne sie verlaufen: die unzähligen Balkon-, Socken- und Streamingkonzerte. Selten wurde die gesellschaftliche, ja die System-Relevanz der Musik für alle sicht- und hörbarer als in den Wochen der erzwungenen Isolation, selten war ihre emotionale Leuchtkraft heller als in diesen sonst so dunklen Tagen.

Und doch blieb das folgenlos für ihre bildungspolitische Bedeutung: Weder die Wiederaufnahme des Instrumentalunterrichts in den Musikschulen noch die Wiederherstellung des rechtlich garantierten schulischen Musikunterrichts sind annähernd erfolgt. Einer kürzlich veröffentlichten bundesweiten Umfrage des BMU zufolge war der Musikunterricht entweder gänzlich ausgesetzt worden („Musikunterricht ist uns verboten“) oder wurde nur rudimentär als Arbeitsbogen-Distanzunterricht durchgeführt. Als Gründe dafür wurden angesichts von Halben- oder Drittelklassen zumeist Personal- und Raumprobleme angegeben, nicht selten aber auch die Furcht der Verantwortlichen, es könnte im Unterricht gesungen werden – das Schreckensbild vom singenden „Superspreader“ scheint sich in den Köpfen eingebrannt zu haben.

Dabei machte die Umfrage gerade auch deutlich, wie vielfältig und einfallsreich Musik auch jenseits des Singens unterrichtet werden kann: Da ist der unermessliche Reichtum des Hörens von Musik – einer Umgangsweise, die einen Großteil der Freizeit, aber einen recht überschaubaren Anteil am Musikunterricht hat – da ist das instrumentale Musizieren in all seinen Facetten von der Bodypercussion bis zum Ensemblespiel, die Welt der Musikgeschichte(n), der Reflexion über die Wirkung und ästhetische Funktion der Musik und nicht zuletzt das Erfinden und Analysieren von Musik sowie die funktionale Einbindung digitaler Medien. Solche Aktivitäten sind stark abhängig vom Engagement und dem Selbstbewusstsein einzelner Lehrkräfte, die sich nicht selten einer Verunsicherung und Vorsicht eigenverantwortlicher Schulleitungen gegen­übersehen. Im schlechtesten Falle könnte das dazu führen, dass die anstehenden Lockerungs- und Normalitätsbestrebungen im Bereich der Musik kaum Folgen haben werden. Denn ob es im kommenden Schuljahr überhaupt – geschweige denn regulären – Musikunterricht geben wird, ist höchst ungewiss und nur vordergründig „abhängig vom Infektionsgeschehen“, wie es amtsdeutsch heißt. Entscheidender als die epidemiologischen Bulletins sind hier nämlich die „Vorerkrankungen“ unseres Bildungssys­tems insgesamt: So fehlt es an ausgebildeten Musiklehrkräften gerade an den Grundschulen, wo ohnehin 70 Prozent des Musikunterrichts ausfallen oder fachfremd erteilt werden, wie es eine von der Bertelsmann-Stiftung initiierte Studie zur Situation des Musik­unterrichts jüngst herausgestellt hat.

An solchen Schulen hat die Musik überhaupt keine Lobby. Auch die Konzentration auf vermeintliche „Kernfächer“ und die Reduktion der Bildungseinrichtungen auf ein Dienstleistungsunternehmen, in dem Kinder und Jugendliche auf ihre Rolle als Lernende reduziert werden, die in Vorwegnahme der Arbeitswelt in Wochenplänen ihre „Lernjobs“ erledigen, zeichnete sich längst ab: Bildung droht auf eine Zulieferfunktion für den Arbeitsmarkt reduziert zu werden, die alles abschneidet, was man scheinbar nicht zum (Arbeits-)Leben braucht.

Noch dramatischer wird die Situation beim Blick auf die abertausenden Schulensembles, die aktuell vollständig ausgesetzt sind und deren Wiederbelebung völlig ungewiss ist. Die Gefahr eines massenhaften Ensemblesterbens – unzählige Chöre, Bigbands und Orchester, die nicht nur im ländlichen Raum das regionale Kulturleben deutlich bereichern – scheint realer denn je. All dies nivelliert die unglaublich positiven Entwicklungen der letzten 20 Jahre, die durch die verstärk­te Hinwendung zur musikalischen Praxis eine regelrechte Blüte hervorgebracht hatte.

Auch hier hängt die Fragilität mit der von Wirtschaftsverbänden aggressiv vorangetriebenen und in Teilen bereits wieder rückgängig gemachten Schulzeitverkürzung und -verdichtung (G8) zusammen. In einer solchen „bildungsbeschleunigten“ Welt ist eben kein Platz für nicht „systemrelevante“ Aktivitäten. Gottlob war der Widerstand gegen diese Ökonomisierung von Bildung seitens der Schüler*innen und Eltern so unerwartet massiv, dass die Maßnahmen in vielen Fällen zurückgenommen wurden (Rückkehr zu G9). Die Schülerinnen und Schüler wollen auch keine „Lernbegleiter“ für ein schulisches Großraumbüro oder ihr Homeoffice, sondern leibhaftige Lehrkräfte. Sie vermissen die Begegnungen im Musizieren, die letzten unverplanten kreativen Räume, die ihnen in den Zeiten der Isolation jetzt auch noch genommen wurden. Um dem entgegenzuwirken, wurde vereinzelt auf Zoom-Proben zurückgegriffen oder organisatorisch-theoretische Aufgaben erledigt. Das aber ersetzt nicht die Motivation und das Glücksgefühl des Präsenzmusizierens. Und Echtzeitsoftware wie „Digital Stage“ oder ähnliche sind wegen der Latenzzeit noch nicht ausgereift genug für ein lebendiges Musizieren. Während die Berufsmusiker sich schon langsam wieder mit bis zu 15 Instrumentalisten zurücktasten und auch die Musikschulen Kleingruppenensembles mit bis zu fünf Personen zulassen, sieht es in den Schulen noch dürftig aus.

Welche Schulleitung möchte da für mögliche Konsequenzen geradestehen, wo sie doch ohnehin schon das tägliche Chaos bestmöglich organisieren muss? Der Wegfall musikalischer Darbietungen im schulischen Alltag, die Einschulungs- und Abschlussfeiern, Musiktheateraufführungen und Schulkonzerte wird die gesamten Schulgemeinschaft schmerzen. Schon haben erste Elternvertretungen Alarm geschlagen, die einen gewaltigen Flurschaden für das kulturelle Leben an den Schulen befürchten und zu einer behutsamen Rückkehr zum Proben und Konzertieren mit den gebotenen Abstands- und Hygieneregeln aufrufen. Und auch seitens des BMU gibt es neben konkreten Hilfestellungen, wie Linksammlungen zu Gutachten und den jeweils aktuellen Verordnungen oder zu Best-Practice-Beispielen, auch die Arbeit im publizistischen und politischen Raum.

Erste Ansätze eines konzertierten und verbandsübergreifenden Handelns (beispielsweise mit den ebenfalls Schulräumlichkeiten nutzenden und damit unmittelbar betroffenen Ins­trumentallehrkräften) müssen aber noch deutlich verstärkt werden, um Synergien besser zu nutzen und in wirksames politisches Handeln zu übersetzen. Warum sollte man nicht gemeinsam in den Kultusministerien vorstellig werden – wie es übrigens bereits in einigen Stadtstaaten praktiziert wird. Warum nicht bei der Kulturstaatsministerin gemeinsam für bundeseinheitliche Standards eintreten und die schmerzhaften Folgen weiteren Zuwartens drastisch vortragen? Das sollten wir im Schulterschluss über die Sparten- und Disziplingrenzen hinweg als gemeinsames Anliegen aktiv und zeitnah in Angriff nehmen. Die Corona-Pandemie wird keine neuen Realitäten schaffen, aber es ist zu befürchten, dass eine einseitige Ausrichtung unseres Schulsystems in einer Weise beschleunigt wird, die ohnehin schon im Gang ist. Es sind nicht die Imperative der Virologen, denen wir zu folgen haben, sondern es gilt, sich den Befehlen jener Monopole entgegenzustellen, die unseren Bildungsbegriff auszuhöhlen drohen, damit unsere Kinder und Jugendlichen nicht in einer Öde ohne Musik aufwachsen. 

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