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Musik – ein Raum, den man am Ende nur alleine betreten kann. Foto: Martin Hufner
Musik – ein Raum, den man am Ende nur alleine betreten kann. Foto: Martin Hufner
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Sich öffnen, damit die Musik Raum gewinnen kann

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Auf der Suche nach einer musikalischen Bildungsidee
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Am 5. Oktober 2015 hielt Karl Heinrich Ehrenforth den Festvortrag anlässlich der Studienjahreseröffnung der Hochschule für Musik Lübeck. Für die nmz hat der emeritierte Direktor der Abteilung Musikpädagogik/Schulmusik an der Hochschule für Musik Detmold und langjährige Präsident – heute Ehrenvorsitzende – des Verbandes Deutscher Schulmusiker/Bundesverband Musikunterricht eine gekürzte und überarbeitete Textfassung angefertigt.

Historische Stationen

Wenn es nach der eindrucksvollen Tradition von mehr als 2.000 Jahren ginge, müsste Musik als zentrales Hauptfach in der gegenwärtigen Schule gelten. Bereits in der Antike war Musik im Rahmen der Septem artes liberales Teil der mathematisch-astronomischen Fächer, die einer zahlorientierten Welterklärung dienten. Musik wurde als klingender Mini-Spiegel des planetarischen Kosmos im geozentrischen Weltbild betrachtet. Man glaubte sogar an eine reale musica mundana, also eine Weltmusik, die man hierzulande nur deshalb nicht vernehmen könne, weil es angeblich hienieden zu laut zugehe. Diese faszinierende spekulative Weltsicht überlebte als akademische Lehre sogar den heliozentrischen Paradigmenwechsel im 16. Jahrhundert um rund 200 Jahre. Es war der gelehrte Musicus, der für diese philosophisch-mathematische Ausrichtung musikalischer Bildung stand. 

Mit der Christianisierung Europas zog dann im frühen Mittelalter ein mehr musikpraktisches Exerzitium in die Kloster- und später auch Bürgerschulen ein, mit dem die musikalisch-liturgische Gestaltung des christlichen Gottesdienstes mittels Knabenchören und Kantoreien gesichert werden sollte. Dieses musikalische Bildungskonzept als praktische Übung des gesungenen Gotteslobs stand fortan neben der mehr theoretischen Mathesis-Reflexion. Früher deutscher Höhepunkt dieser zweiten Wurzel der abendländischen Musikunterweisung war die Gründung der Leipziger Thomasschule und der Dresdner Kreuzschule im späten Mittelalter. Es war der praxiserfahrene Cantor, dem diese Aufgabe oblag.  

Prestigestreitereien zwischen beiden Rollen waren schon seit dem späten Mittelalter üblich. Angeblich sei der denkende Musicus dem „nur“ praktizierenden Cantor überlegen. Gleichwohl: Diese konkurrente Kooperation von antik-philosophischer beziehungsweise christlich-theologischer Zielsetzung musikalischer Bildung stellte einen nie wieder erreichten Höhepunkt im Lehrplan des Abendlandes dar. Kein Wunder, dass Johann Sebastian Bach, der finale Höhepunkt dieser Tradition, darauf Wert legte, in seiner Leipziger Aufgabe als Thomaskantor sowohl als Cantor wie auch als Musicus anerkannt zu sein.

Nach dem fast lautlosen Zusammenbruch dieses großen Erbes gelang es der Aufklärung trotz Alexander Baumgarten nicht, eine zukunftsfähige musikalische Bildungsidee zu entwerfen, geschweige denn politisch durchzusetzen. Die kritische Kopf-Vernunft der Aufklärung bot zu wenig Mutterboden für die Künste. Denn sie bleiben stets produktiv wie auch rezeptiv angewiesen auf die Totale von Leib, Seele und Geist. Kant hat in seiner „Kritik der Urteilskraft“ eine Brücke zu schlagen versucht. Was die Musik betraf, war sie aber ein Fehlschlag. Wenn der große Philosoph etwas mehr Gespür für die Musik gehabt hätte, wäre die Geschichte der musikalischen Bildung vermutlich anders verlaufen.

Erst die Kritik der deutschen Romantik am „Rationalismus“ der Aufklärung gebar die Idee einer Revitalisierung quasi-religiöser Erfahrung durch Musik. Diese „Kunstreligion“ war eine mächtige Triebfeder für die nun aufstrebende bürgerliche Konzertkultur. Das ästhetische Klangerlebnis in den kirchenähnlichen Konzertsälen mit dominanter Positionierung der Bühnenorgel erhielt kultische Weihen. E.T.A. Hoffmann bediente sich schon früh des (genuin theologischen) Offenbarungsbegriffs, um sein Erlebnis mit Beethovens 5. Sinfonie auf den Punkt zu bringen. Dirigenten wie Nikisch und Furtwängler legten auf eine säkular-pries-terliche Aura Wert. Musik wurde zur Botschaft des Unendlichen. Auch die musikalische Bildungsidee in Goethes „Pädagogischer Provinz“ des „Wilhelm Meister“ erhielt kunstreligiöse Züge. Musik ist nach Goethe wie geschaffen, im Fokus der Bildung insgesamt zu stehen, „denn von ihr laufen gleichgebahnte Wege nach allen Seiten.“

Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts zu Beginn des 19. Jahrhunderts stand unter dem Eindruck der großen Tradition bis hin zu Bach. Die neue Pflichtschule war nicht ohne Musik vorstellbar. Der Versuch aber, ihre politische Umsetzung gegen „moderne“ Widerstände dadurch zu sichern, dass man die einstige Symbiose von Kirchenmusik und Schulmusik wieder in Szene setzte, war langfristig ein Fehler, der das ganze Jahrhundert bedrückend spürbar blieb. Der Schulmeister sollte auch der Kantor sein und umgekehrt. Das aber war für eine flächendeckende neue staatliche Erziehungsaufgabe und der bald einsetzenden Trennung von Kirche und Schule eine krasse Überforderung und hat das Problem einer eigenständigen Schulmusik ungelöst dem 20. Jahrhundert weitergereicht. 

Aber wie sollte musikalische Bildung als sozialpolitisches Postulat für alle Schichten der Gesellschaft gestaltet werden? Die bürgerliche Konzertkultur des 19. Jahrhunderts war für die einen ein Anreiz, diesen Schatz auch den Außenseitern, vor allem der Arbeiterklasse, nahezubringen; für die anderen war sie jedoch bereits Phänomen einer musikkulturellen Krise. Fritz Jöde träumte zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch von einem „singenden Volk“. Konzerte waren für ihn – wie er dem Verfasser dieses Beitrags noch im Studium der 1950er-Jahre persönlich bestätigt hat – Phänomene kulturellen Verfalls. Auf der anderen Seite erkannte der Pianist und (sozialdemokratische) Bildungspolitiker Leo Kestenberg nüchtern, dass eine musikalische Grundbildung für alle erforderlich sei, wenn man die Musikkultur nicht auf ein sogenanntes Bildungsbürgertum beschränken wollte. Die Schule schien dafür geeignet, trotz der bekundeten Skepsis mancher tatkräftiger Mitdenker der Reformpädagogik vor dem Ersten Weltkrieg.

Die Bildungseuphorie um den Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert trug mehr und mehr Züge einer irrealen Sozialromantik. Die Heilsbotschaft vor allem in der Musik lautete: „Menschlichkeit durch Musisches“. Mit diesem hehren Ziel landete sie ohne Selbstkritik direkt in den Sümpfen des Nationalsozialismus.  

Das davon geprägte Zeitalter Kestenbergs ist nach fast 100 Jahren am Ende. Alle soziokulturellen wie medien- und musikpolitischen Konditionen seiner Reformbewegung haben sich grundlegend geändert. Die sozialromantische Missionsidee ist nicht mehr haltbar. Wir stehen vor einem Neuanfang. Wie geht es weiter?

Der übliche Hau-Ruck-Aktionismus einer oft recht kurzatmig-provinziellen Bildungspolitik ist leider für eine Nachhaltigkeit in der Gestaltung der Zukunft nicht verheißungsvoll. So ist Geduld angesagt. An erster Stelle geht es dabei nicht um die Musik selbst, sondern um das Bildungskonzept der Schule. Vielfach findet sich die Musik dort nur als Gast behandelt, der als Außenseiter kaum Chancen hat, durchzuatmen und sich zu entfalten. Im blanken Utilitätsdenken des Arbeitsmarktes wird Musik zur Austauschware für angeblich Wichtigeres gehandelt und damit oft schlicht chancenlos.

Ein wichtiger Grund dafür liegt in der praktizierten Sezession von Bildungs- und Kulturpolitik. Dass gerade die Künste als genuin zentrale Kulturfächer einen angemessenen Raum im humanistischen Bildungsverständnis einer fortgeschrittenen Demokratie in Anspruch nehmen müssten, ist der bildungspolitischen Praxis völlig fremd. Bedauerliche Engführungen unter dem Namen Pisa und Bologna sind Folgen dieser unkoordinierten Eigenbrötlerei. Hier brauchen wir einen kooperativen Neuanfang. Das heißt: Die Bildungspolitik braucht die nachhaltige Langatmigkeit kulturpolitischer Verantwortung, um aus ihrem einseitig sozialpolitischen Ghetto herauszufinden.

Daraus folgt die Frage, wie eine genuin musikalische Bildungsidee im 21. Jahrhundert aussehen könnte, bei der sowohl die große Musiktradition im Blick bleibt als auch ihre schwer zu prognostizierende Entwicklung vorausgedacht werden muss. Welche Rolle wird Musik in ihrer unbegrenzt wachsenden medialen Ubiquität und „Gleichschaltung“ überhaupt (noch) spielen? Wird die bislang unersetzliche kultursymbolische Bedeutung der musikalischen Hochkunst Europas von Monteverdi bis Mahler dann noch ihren produktiven und rezeptiven Lebensraum behaupten? Das Warenhaus, wo das Beste nur noch im letzten Winkel des 6. Stockwerks erreichbar ist, kann keine Lösung sein.

Gegenwartsfragen

Beginnen wir mit der Frage nach Bildung überhaupt. Eine vielfarbige akademisch-theoretische Reflexion zum Thema steht hier im scharfen Kontrast zu einer mageren, bildungspolitischen Wirklichkeit. Vor den Hochgebirgen dieser Tradition von Comenius bis Hegel und Herbart steht sie nur als kleiner Hügel vor dem heutigen Betrachter.

Es sei hier gewagt, an eine wichtige Wurzel der europäischen Bildung im späten Mittelalter zu erinnern. Meister Eckhart, der Mystiker des späten Mittelalters war es, der die biblische Positionierung des Menschen als Eben-Bild Gottes nicht als selbstverständliche Bei-Gabe, sondern als Auf-Gabe verstanden wissen wollte. Bildung ist für Eckhart ein lebenslanger Prozess der buchstäblichen Ein-Bildung Gottes in die eigene Seele. „Öffne sie, Deine Seele, damit das Bild Gottes in Dir Raum gewinnen kann. Es ist das Bild des höchsten Gutes und soll Dein Bild werden.“

Aber was kann dieser Satz heute bedeuten? Wird unsere „nachmetaphysische“ Denkwelt eine solche religiöse Bildsprache der Voraufklärung überhaupt noch nachvollziehen können und wollen, zumal „Ein-Bildung“ heute fast nur noch für Selbstüberschätzung und Hypochondrie steht? Es ist der späte Jürgen Habermas, der hier im Diskurs mit Joseph Ratzinger Widerspruch einlegt. Er bezeichnet sich zwar selbst als „religiös unmusikalisch“, warnt aber davor, religiöse Vernunftweisheiten und Erkenntnisse aus der Tradition der Vor-aufklärung einfach auf die Deponie zu werfen. Habermas insistiert auf einer „polyphonen Korrelation von Vernunft und Glaube“, weil nur ein solches Zusammenspiel der beiden nur scheinbaren Kontrahenten das gemeinsame geistige Erbe Europas sichern könne. Freilich sei eine sprachliche Adaption nötig, ohne dass dabei die ursprüngliche Intention des Textes verloren zu gehen droht. Eckharts religiöses Bildungskonzept könnte dann vielleicht für uns heute so lauten: „Öffne dich für die innere und äußere Welt um und in dir, auf dass du ein Bild gewinnst, das dir helfen kann, dein eigenes Bild in ihr zu finden.“

Der Weltbegriff darf hier allerdings nicht verengt werden. Er ist als geis-tige Herausforderung dessen zu denken, „was uns unbedingt angeht“, wie es der deutsch-amerikanische Harvard-Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich formuliert hat. Das ist dann eine Welt, die uns „ruft“. Sie geht uns „auf“ und deshalb geht sie uns auch „an“. Ihr Ruf heischt Antwort. Antworten-Können heißt: Ver-Antwortung zu akzeptieren. Es ist die Welt, in der das Herz eine Rolle spielt. Für Experten ist erkennbar, dass hier Pestalozzis „Herzensbildung“ – also die Mitte seiner Elementarbildung – mit Martin Bubers Dialogik und am Rande auch mit Klaus Schallers Kommunikativer Bildung stärker als bisher verbunden werden könnte. Markierungen solcher Bildung sind vor allem:

Erstens: Bildung darf nicht nur den sogenannten Gebildeten gehören. Potentiell sind alle Menschen zu „bilden“, damit sie ihre Rolle als Teilnehmer der Gesellschaft mehr oder weniger gut erfüllen können. Wem das Wahlrecht zugestanden wird und wer ohne vorangehenden Kompetenznachweis eine Familie gründen darf, gehört dazu. Ein Vorstandsvorsitzender ist gebildet, wenn er gerecht ist, zuhören kann und sein mögliches Versagen nicht so lange leugnet, bis er vor Gericht überführt worden ist. Aber eben auch der schlichte Pförtner dieser Firma ist gebildet, wenn er weiß, dass er für die Eintretenden mit seinem Verhalten und Sprechen den Geist des Hauses spiegelt, für den er da unten seinen Dienst tut.

Zweitens: Bildung dieser Art erschöpft sich nicht in der Kumulation von Wissen und Kompetenzen, sondern wächst auf dem Boden von Vorbild und Haltung, ist also vor allem ethisch getönt. Sie schließt damit die emanzipative Färbung des Bildungsbegriffs der Aufklärung ausdrücklich mit ein.

Drittens: Bildung ist nie am Ende. Familie, Kita und Schule sind nur Startplätze. Kein Reifezeugnis kann Bildung abschließen. Deshalb auch sind Lehrer und Ausbilder mehr Gärtner und Förster denn Produktingenieure. Denn sie pflanzen und wissen, dass andere ernten werden. Unsere Bildungspolitik weiß wenig von dieser Haltung des Pflegers oder Gärtners. Sie ist deshalb oft so wenig nachhaltig, weil sie Fortschritt mit blankem Veränderungseifer und atemloser Ungeduld zwischen zwei Wahlterminen verwechselt. 

In der Dauerdefensive

Es ist nicht zu bezweifeln, dass dieses Bildungsprofil in der heutigen Schule nur dann noch eine kleine Chance hat, wenn die Person des Lehrers es selbst lebt und praktiziert. Aber auch diese Haltung des Einzelnen kann resignierend scheitern, wenn die Aura, der Geist und die Zielvorgaben der Institution permanent dagegenstehen. Das Gefühl des wachsenden Fremdwerdens im eigenen Beruf lähmt den pädagogischen Eros. Haltung und Job trennen Welten.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass solche Verfremdungs-Erfahrungen gerade auch viele Kunst- und Musikpädagogen beschleichen. Es gibt zwar Schulen mit erweitertem Musikunterricht, eine wachsende Zahl von Bläser-, Streicher-, Gesangs- und Chorklassen und Initiativen wie Jeki („Jedem Kind ein Instrument“) und sicher auch hier und da einen Schulleiter, der die Künste ausdrücklich fördert, weil er weiß, was damit zu gewinnen ist. Aber das Gesamtbild des Faches scheint sich zunehmend zu verschatten. In der Grundschule wird Musik schon lange nicht mehr als eigenständiges Fach akzeptiert, sondern in Sammelschubladen versteckt, wo sie oft ihr Leben aushaucht. In den weiterführenden Schulen ist Musik für viele eine Art Luxusfach, das nichts für eine berufliche Karriere beizutragen hat und deshalb immer mehr in Atemnot gerät. Gewiss: Es gibt Ausnahmen. Aber der Trend ist leider nicht von der Hand zu weisen. Der österreichische Bildungskritiker Konrad Paul Liessmann bringt es auf den Punkt: „Die Musen haben in Schule und Gesellschaft einen Feind, dem sie nicht gewachsen sind: es ist das Nützliche.“

Unsere Fachkollegen in Skandinavien wehren sich seit Jahrzehnten gegen eine Schule der einseitigen „technischen Rationalität“. Sie sagen zurecht, dass das Besondere des Umgangs mit Musik die Freiheit sei, eine Freiheit, die der erklärte Hauptfeind der bildungspolitischen Verzweckung ist. „Musical experiences happen to be quite useless.“ Damit haben sie völlig Recht. Tragisch aber ist im Postulat dieses „useless“, dass im Englischen wie im Deutschen eben auch assoziatives Kennwort für das Überflüssige, das Unnütze und sogar Unbrauchbare ist. Im Bann einer arbeitsmarktlichen Präparandenanstalt wie der heutigen Schule ist solche Etikettierung tödlich wirksam. „Du kannst es vergessen …“             

So ist es kein Wunder, dass Musik in Sonntagsreden als Medium der Freiheit und des Schönen frei nach Schiller hoch geschätzt wird, aber im Alltag einer verzweckten Schulbildung zum Aschenputtel des innerschulischen Verteilungskampfes zu werden droht. Daraus ist eine bedauerliche Dauerdefensive erwachsen, die für die Betroffenen bereits pathologische Züge annimmt. Ginge es hier um ein Vertragsverhältnis zwischen Bildungspolitik einerseits und Musikkultur andererseits, wäre es ratsam, diesen Vertrag mittelfristig aufzukündigen, mindestens ab Klasse 7 aufwärts. Ein solcher freiwilliger Exitus wäre das kleinere Übel gegenüber einem schleichenden Erstickungstod. Das sich hartnäckig haltende Scheinargument, nur mittels Schule werden alle Heranwachsenden erreicht und deshalb gäbe es keine Alternative für eine musikalische Allgemeinbildung per Schule, ist obsolet geworden. Es darf keine Lebenslüge werden.

Was muss sich ändern?

Erstens: Die zunehmende Verzweckung des Bildungsbegriffs nimmt den Künsten immer mehr den Atem. Die Schule sollte zurückfinden zu einem ganzheitlich-humanen Erziehungskonzept. Hier liegt ihr historisch legitimierter Auftrag. In einer Zeit beängs-tigender Selbstisolierung durch akademische Hochspezialisierung müsste wenigsten die Schule einen Freiraum behalten, bei der nicht gleich eine erfolgreiche Berufskarriere im Vordergrund steht, sondern das Ziel eines gelingenden Lebens. Das ist bekanntlich ein Unterschied.  

Zweitens: Die schleichende Amputation von Bildung hat neben anderen Ursachen, wie beispielsweise dem chronischen Lehrermangel, zur Folge, dass die von Kestenberg einst erdachte Aufgabe einer musikalischen Grundbildung für alle via Schule längst so nicht mehr einlösbar ist. Opernhäuser und Orchester haben das erkannt und werden selbst aktiv. Die Education-Programme der Berliner Philharmoniker, das Dvorák- und das Gershwin-Projekt der ARD und vieles andere zeigen an, dass der Bedarf einer musikkulturellen und -institutionellen Gesamtverantwortung aller musikalischen Institutionen wächst. Die sogenannte „Schulmusik“ mit ihren bestenfalls 90 Minuten in der Woche kann diese Verantwortung nicht mehr einlösen. Sie braucht längst Entlastung. Das heißt: Musikalische Grundbildung wird Aufgabe aller musikalischen Institutionen im kooperativen und koordinierten Verbund werden. Der Koordinationsbedarf ist zwar groß, aber verheißungsvoll. Damit wird die Schule befreit von der bedrückenden Rolle eines scheiternden Alleinträgers und kann entlastet werden zum mittragenden Partner mit anderen zusammen. Musikschule, Kirchenmusik und der große Verbund der Laienmusik stehen ihr schon lange kooperativ zur Seite. Es ist längst erkennbar, dass wir bereits auf dem Wege in eine neue Zukunft sind.

Drittens: Seit dem späten 18. Jahrhundert suchen wir nach einer tragfähigen musikalischen Bildungsidee für die Gegenwart. Wofür steht Musik, wenn es um dieses „gelingende Leben“ geht, das Maßstab einer humanorientierten Bildung geht? Bis dahin galt die schlichte Dreifaltigkeit sinnstiftender Zielsetzungen: Kirchenmusik dient dem Lobe Gottes, die sogenannte weltliche Musik der aristokratischen Repräsentation und die Volksmusik dem sozialen Zusammenhalt. Im säkularen Zeitalter, das die Dialektik der Aufklärung nicht leugnen kann, in dem auch die Vielfalt der Angebote an Werten, Stilen und Lebensentwürfen von einer einzigen Bildungstheorie nicht mehr erfasst zu werden scheint, wird diese Herausforderung sehr groß. Zumal immer klarer wird, dass der musikalische Bildungsidealismus des 19. und 20. Jahrhunderts heute nicht mehr trägt. Wer kann nach Hitler und Stalin noch ohne Schamröte behaupten: „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen haben keine Lieder“?

Viertens: Wer im Angesicht dieses Plädoyers glaubt, die Schule habe im Hinblick auf die Künste „ausgedient“, der irrt sich. Keine noch so wirksame Bildungsinitiative von Medien, Opernhäusern und Konzertorchestern kann den grundlegenden und beständigen Anregungsimpuls schulischer Musikvermittlung ersetzen. Die Schule ist ein wichtiger und autarker Mitgestalter einer umfassenden und koordinierten musikalischen Grundbildung, die diesen Namen auch verdient. Die wachsende Unterstützung von außen tut ihr gut und haucht ihr neues Leben ein.  

Voraussetzungen eines Curriculums

Eine Bildungsidee ist noch kein Curriculum. Aber voraussetzende Bedingungen für sie können benannt werden.

Erstens: Metaphorisch gesprochen, ist Musik für die, die sie ernst nehmen, gleichsam ein Fenster ins Offene. Jeder findet dabei seine eigene Art des Offenen und Befreienden. Immer aber geschieht dabei ein kleines Wunder: Eine Tür öffnet sich in das Geheimnis, das jede Klang-„Sprache“ mit sich führt und das wir zugleich auch selbst in uns fühlen. In Sternstunden vermag Musik uns sogar zu verwandeln. Diese Kraft der Transfiguration durch Musik wäre wieder mehr in den Vordergrund zu stellen. Das meint: sich zu fragen, was Musik mit „mir“ macht.

Zweitens: Damit kommen wir zum wichtigsten Prinzip eines tragfähigen und vor allem einlösbaren zukünftigen musikalischen Bildungskonzepts, nämlich Abschied zu nehmen von einer Art innerer Mission, die glauben lässt, wer für die Hochkunst nicht zu gewinnen sei, sei ein Banause. Beherrschend für musikalische Bildung sollte jetzt die Erziehung zur Offenheit für Fremdes und Ungewohntes bleiben, ohne dass der Verdacht aufbricht, man müsse dann auch Abschied nehmen von seiner Lieblingsmusik. Also nicht, dass man von einem Popfan erwartet, morgen Beet-hoven zu lieben und übermorgen möglichst auch Schostakowitsch. Musikalische (künstlerische) Bildung schließt die Freiheit der Wahl ein, die eine des Lebensstils ist.

Drittens: Eine zeitgemäße musikalische Bildungsidee von heute sollte also anerkennen, dass der Weg von Heino zu Henze zwar einen eklatanten Höhenunterschied ausmacht, aber der Blick ins Tal uns Anhänger der Hochkunst nicht arrogant werden lassen darf. Nach Odo Marquard ist das Leben ohnehin zu kurz, um in jeder Hinsicht nur kulturelle Hochebenen zur Pflicht zu machen. Die Erwartungen und Erfahrungen im Umgang mit den vielen Musiken werden sich ohnehin noch stärker ausdifferenzieren. Mit einem schlichten Wertekanon werden wir nicht mehr zurechtkommen. Kein Bildungssystem kann Menschen daran hindern, beim Schlager oder bei Popmusik zu bleiben. Und die Klassikfreunde sollten versuchen, nicht herabzuschauen auf die Liebhaber der Popularmusik, auch wenn es bisweilen schwer fällt.

Viertens: Der noch immer übliche „grammatikalische Fundamentalismus“ im Methodenarsenal der Vermittlung von Musik ist als Holzweg zu durchschauen und sollte schnellstens Vergangenheit werden. Das trockene Begriffssystem der Musiklehre erreicht weder die Herzen der Musikhörer noch schafft sie irgendeine nennenswerte musikalische Prä-Professionalität. Vor allem versagt sie in Gänze, wenn es gilt, einen Lichtschein in das Geheimnis der Musik selbst zu werfen. Sie ist nicht Primat, allenfalls Tertium. Zunächst geht es um die Weckung emotionaler Vor-Bindungen zu einer Musik mittels eines intrinsischen, lebensweltnahen Weckimpulses. Der Quintenzirkel oder das Fugenschema ist kein Portal, um eine Musik zu verstehen und vielleicht sogar schätzen oder lieben zu lernen. Im Vordergrund steht die Neugierde, was eine Musik „für mich“ bedeuten könnte. Kann sie mir „Freund“ werden? Oder bleibt sie mir wohl immer fremd? Dann aber bitte: warum? Erst hier werden Sachaspekte in den Vordergrund treten. Es geht also dann um ein nachträgliches, nie anfängliches „Begreifen dessen, was mich ergriffen hat“ (wie es der Literaturwissenschaftler Emil Staiger vor mehr als 50 Jahren formuliert hat), und fast nie um ein (rationales) Wissen, von dem man irrigerweise hofft, sie möge unsere Liebe zu einer Musik entzünden. So fängt pädagogische Desillusionierung an: Musik? Brauche ich nicht. So nicht.

Es folgen vier Szenerien, die zeigen mögen, was die im vorigen Abschnitt angedeutete „Transfiguration durch Musik“ meint. Sie könnte vielleicht eine Anregung dafür sein, wie eine Bildungsidee der Musik im 21. Jahrhundert aussehen könnte, die sich nicht überhebt.  

Szene 1

Die fünfjährige Anne spielt im Kinderzimmer. Von nebenan erklingt ein Menuett von Mozart. Anne spitzt die Ohren, bringt sich in Stellung, hebt die Arme, stellt den rechten Fuß auf Linie zum linken und beginnt zu tanzen.

Was geschieht hier? Anne reagiert auf den Ruf der Musik. Der Dreiertakt animiert ihren Körper, er beginnt zu schwingen, wird Musik selbst. Hier beginnt Verwandlung, Transfiguration: Der Körper wird zum Leib. Er ist es, der zum Instrument wird. Maurice Merleau-Ponty, der Doyen der europäischen Leibphilosophie, zeigt den Unterschied: Den Körper „haben“ wir, der Leib „sind“ wir. „Er ist unsere Verankerung in der Welt.“ Das ist übrigens ein Satz, der den cartesianischen Dualismus spätestens zu Grabe getragen hat.

Szene 2

Sommer 2015. Grieg-Halle im norwegischen Bergen. Internationale Festspiele. Angekündigt ist ein Konzert unter dem Titel „Liederbuch der Erinnerungen“. 1.500 Menschen sammeln sich um eine Großgruppe von Demenzkranken der Stadt samt ihren Familien und Pflegern. Auf der Bühne ein Streichquartett und zwei Mädchenchöre. Das Streichquartett intoniert, eine professionelle Sängerin stimmt das erste Lied an und plötzlich schwingt und singt der ganze Saal, gemeinsam mit den Demenzkranken. „Erschütternd“, so berichten Ohren- und Augenzeugen.

Was ist hier geschehen? Die Kranken wissen zwar kaum noch, wer sie selbst sind, aber das Singen der Lieder ihrer Kindheit öffnet längst verschlossene Türen der personalen Identität. Hier kehren sie zurück zu sich selbst und erfahren eine Transfiguration in längst verloren geglaubte Räume der eigenen Biographie. Sie finden ihr Leben von einst – in und mit der Musik.

Szene 3

April 2015. Dom zu Köln. Trauerfeier für die Opfer des Germanwings-Fluges Barcelona – Düsseldorf. Bundespräsident, Erzbischof, Minister aus Frank-reich und Spanien wie auch Vertreter der Angehörigen ringen um Worte. Sprachlosigkeit macht sich breit angesichts des Unbegreiflichen. Jeder Trostversuch in Worten droht zur Falschmünze zu werden. Pause. Stille. Dann klingt eine Solovioline auf. Ihr Ton strömt in den hohen Raum wie ein auditiver Sonnenstrahl, haptisch wie eine tröstende Hand. Da schwingen auch Klage und Trauer mit, aber mehr noch Spuren von Hoffnung und Trost. Hier ist es die Sprache des Unaussprechlichen, die uns heimholt und erfüllt mitten in Schmerz und Verzweiflung. Nur Musik kann das, ein schlichter Einspruch gegen das Versinken in Trauer. Ernst Bloch, der agnostische Philosoph der Hoffnung, spricht angesichts der Bach’schen Sterbekantaten von einem „Überschuss, der durch die Finsternis geht und als Klang dadurch, dass er da sein kann, einen unbegreiflichen Trost (spendet)“. Ja, so ist es.

Szene 4

Sinfoniekonzert in der Philharmonie. Beginn: 20 Uhr. S-Bahn 18.47 Uhr nehmen. Acht Minuten Fußweg einrechnen. Kleiner Imbiss im Foyer. 19.58 Uhr Klingelzeichen. Spieler und Hörer nehmen Platz. Einstimmen. Stille. 20.03 Uhr. Der Dirigent betritt das Podium. Verständigungsblicke mit dem Orchester. Der Arm hebt sich zum Einsatz. Da passiert es. Die Armbanduhr bleibt stehen. Sie ist abgemeldet. Eine andere Zeitrechnung gilt. Freiheit in einer klangeigenen, zeitenthobenen Zeitlichkeit. Auch noch mit Beginn und Finale. Aber anders. Ohne die Diktatur der Uhrzeit. Vorgeschmack einer anderen Welt. Transfiguration.

Warnzeichen

Vier Szenen, in denen wir anders herausgehen als hineingehen. Verwandlung durch Musik. Dennoch hier ein Warnzeichen am Schluss. Wer noch – wie der Verfasser – den braunen Adolf aus Braunau via Hitlerjugendzwang aushalten musste, weiß, dass Musik leider nicht heilig ist. Sie kann Kollaborateur des Bösen werden, manchmal, ohne dass man es merkt. Plötzlich ist man mitgefangen, mitgehangen und weiß das erst, wenn der Spuk vorüber ist. Musikaufführungen im Konzentrationslager der Nazis ? Die Hölle im Namen des Schönen. Jeder Idealismus zerfleddert vor solcher Verachtung des Menschen. Auch hier zeigt sich, dass wir eine defensive Bildung brauchen, die solchen Missbrauch durchschaut. Dann könnte es sogar sein, dass es die Musik selbst ist, die uns davor zu schützen vermag.

Machen wir uns auf den Weg, dies auch anderen zu sagen. Setzen wir uns ins Bild: in jenes, das uns gegeben ist und jenes, das wir selbst werden wollen und sollen.

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