Hauptbild
neue musikzeitung vor 50 Jahren.
neue musikzeitung vor 50 Jahren.
Banner Full-Size

Vor 50 Jahren – Der gekürzte Musikunterricht und die Folgen

Untertitel
Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 1, April/Mai 1974
Vorspann / Teaser

Alle Gespräche über die therapeutische Wirkung der Musik für Gesunde wie Kranke haben nicht viel mehr eingebracht als eine neue Fachdisziplin. Übergreifende Konsequenzen gezogen wurden bisher weder von der Ministerialbürokratie noch von den Alltagspädagogen. Wenn hier ein Arzt alarmierend für die Musikerziehung in der Schule in die Bresche springt, so sei dies als aktueller Diskussionsbeitrag […] zu verstehen. Seit dem Jahre 1959 […] wurde das Fach Musik in seinem Wirkungsbereich mehr und mehr eingeschränkt. […] Wir müssen uns fragen, ob dieser Schrumpfungsprozeß hingenommen werden darf oder ob es Gründe und Möglichkeiten gibt, ihn aufzuhalten, gegebenenfalls ihn durch einen Wachstumsprozeß zu ersetzen. […]

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Immerhin stehen wir vor einem Problem, das durch das ständige Ansteigen der sogenannten Zivilisationskrankheiten gestellt ist, deren erste Auswirkungen sich bereits im Kindesalter und bei Jugendlichen zeigen. Die Fachliteratur läßt kaum einen Zweifel darüber, daß kaum ein Mensch, also auch kaum ein Kind, von komplexen psychosomatischen Störungen verschont ist, die unter dem Sammelbegriff vegetativer Funktionsstörungen registriert werden.[…] Alles das stellt die Lernfähigkeit in Frage, auf die die schulische Absicht der Vermittlung von Wissen angewiesen ist. Das Resultat ist bekannt. 

Zwei Unterrichtsfächer sind hier geeignet, dem Kind und der Schule selbst zu helfen: der Turnunterricht und der Musikunterricht. Das sollte als Grundsatz gelten, wenn man beide Veranlassungen vordringlich als solche der Gesundheitserziehung, besser noch der bedachten Gesundheitsbildung versteht. Ob das bei der Planung dieser Unterrichte der Fall ist, kann man für den Musikunterricht bei dessen zunehmender Einschränkung in Frage stellen. Der im Bereich der Gesundheitsbildung tätige Arzt redet an den wissensvermittelnden Pädagogen vorbei, wenn er die gesundheitsbildenden Faktoren schildert, die in der Praxis des Musikunterrichtes wirksam werden. Es sind entscheidende Beiträge zur Gehörbildung und Hörerziehung, wichtig für zahlreiche spätere industrielle Berufe. Es sind Beiträge zur Förderung des richtigen Atmens, wichtig für die Herz-Kreislaufbilanz. Es sind im Musikunterricht Beiträge zur Förderung des Kommunikationsvermögens möglich, fast einmalig im Gesamtunterricht, die Entwicklung der Gruppe durch den Chorgesang, die Überwindung der Isolation. Es sind schließlich in diesem Unterricht dämpfende Einflüsse möglich, die in der Behandlung der vegetativen Funktionsstörungen heute bereits eine tragende Rolle spielen.

Dem allem hält der wissensvermittelnde Pädagoge entgegen, daß Gesundheitserziehung und Gesundheitsbildung nicht seine eigentliche Aufgabe sei. Die Schule ist schließlich keine therapeutische Einrichtung, der Musikunterricht, das beweist schon das Wort Unterricht, ist kein Gesundheitsseminar. Genau das ist im wesentlichen wohl auch der Grund, weshalb der Musikunterricht von Jahr zu Jahr an Umfang und Bedeutung verliert. Sein Gehalt an für das Wissen des Menschen bedeutsamem und wichtigem Material mag gegenüber anderen Fächern weniger relevant sein, eine Hecke am Wiesenrand, die man aus rationalen Gründen abholzen kann. […] 

Bild
Peter Beckmann, Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 1, April/Mai 1974

Peter Beckmann, Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 1, April/Mai 1974

Text

Vom Standpunkt der modernen, wissenschaftlichen medizinischen Epidemologie, der Lehre von der Entwicklung und Verbreitung der Zivilisationskrankheiten, können wir uns eine derartige Einschränkung nicht leisten. Im Gegenteil müssen wir diese Einschränkung für eine gefährliche Fehlplanung halten. Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Untersuchungen über den Gesundheitswert organisierter Musikausbildung, z. B. des Gesanges, die in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Universitätsinstituten durchgeführt wurden, ist es ebenso geradezu ein Kunstfehler, sich dieser Waffe gegen die Entwicklung der beschriebenen Gesundheitsstörungen in der Schule nicht zu bedienen. Wie weit dabei die Musikpädagogen selbst in ihrer Ausbildung auf diese Möglichkeiten hingewiesen werden, ob das nur so nebenbei erwähnt wird, als selbstverständlich vorausgesetzt oder in Bezug auf praktische Methodik verbindlich gemacht wird, kann für unsere Betrachtung hier keine entscheidende Rolle spielen. 

Der Musikpädagoge sollte lernen sich als einen wichtigen Helfer im System der Schule zu verstehen, der den Schüler durch seinen Unterricht in die Lage versetzt, anderen Unterrichten besser zu folgen, als er es ohne diesen Unterricht tun kann. Seine Kollegen mit anderen Lehraufträgen sollten lernen, daß der Musikpädagoge nicht ein den Stundenplan belastender Zeitkonkurrent ist, sondern ein Betriebshelfer von einmaliger Bedeutung. Nur dann wird es möglich sein, unsinnige Beschränkungen des Musikunterrichtes an unseren Schulen aufzuhalten und diesem Unterricht wieder den notwendigen Raum zu geben. 

Gründe gibt es also genug und schwerwiegende dazu, die Schrumpfung des Musikunterrichtes an unseren Schulen zu stoppen. Gründe auch, ihm ein anderes und neues Gewicht zu geben. Ob das möglich sein wird, hängt von der Einsicht der Verantwortlichen ab, die vor die Frage gestellt sind, welche Bedeutung man gesundheitsbildenden Faktoren in der Schule geben muß, zu denen der Musikunterricht mit Sicherheit zu rechnen ist, Wenn ein wesentlicher Teil der Schüler als gesundheitsgeschädigt anzusehen ist, wie es epidemologische Untersuchungen bestätigen, dann dürfte die Beantwortung dieser Frage keine Schwierigkeiten machen.

Peter Beckmann, Neue Musikzeitung, XXIII. Jg., Nr. 1, April/Mai 1974

Print-Rubriken
Unterrubrik