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Who draws the crowd, and plays so loud? Baby, it‘s the guitar man. Night after night, who treats you right? Baby, it‘s the guitar man. Foto: Martin Hufner

Who draws the crowd, and plays so loud? Baby, it‘s the guitar man. Night after night, who treats you right? Baby, it‘s the guitar man. Foto: Martin Hufner

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Make Music not Love! – Really?

Untertitel
Nachschlag 2025/07
Vorspann / Teaser

„Musik ist besser als Sex.“ So betitelten die Dresdner Musikfestspiele die Pressemitteilung über ein Experiment ihrer Reihe „Sound & Science“. Und genauso rauschte die Sensationsmeldung dann durch die Medien. Was war geschehen? Passend zum Festivalmotto „Liebe“ hatte man vor und nach einem Konzert im „Zentrum für Regenerative Therapien“ der TU Dresden bei freiwilligen Probanden des Publikums einen Anstieg des Oxytocin-Werts von durchschnittlich 37,54 auf sagenhafte 203,17 pg/ml gemessen. Die spielenden Musiker erwiesen sich gegenüber einem Arrangement von Bachs „Goldberg-Variationen“ und zwei Sätzen aus Jean Françaix’ Streichtrio offenbar als abgebrühter, da ihr Oxytocin-Wert nur auf 88,49 pg/ml stieg. Das gemeinsame Musizieren und vor allem Hören von Live-Musik lässt das „Kuschelhormon“ also nachweislich ansteigen, und zwar deutlich stärker als bei Körperkontakt, Umarmungen, Küssen und Intimitäten bis zum Sex.

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Eine Zwanzig-Sekunden-Umarmung erhöht diese Aminosäure nur um schlappe 3 bis 5, sehr enge körperliche Nähe um 50 bis 150 pg/ml.

Das umgangssprachliche „Liebeshormon“ nennt man daher ab sofort wissenschaftlich korrekter „Musikhormon“. Denn nun ist endlich medizinisch belegt, was man immer schon wusste: Musik stärkt die Beziehungen zwischen Menschen, stiftet Gemeinschaft, erteilt der bröckelnden Demokratie eine Vitalitätsspritze, stärkt das Immunsys­tem und baut zudem Stress, Angst und Schmerzen ab. Was will man mehr? Das Hormon liefert den Schlüssel zurück ins Paradies, zu Frieden, Freude, Liebe. – Doch halt! Die Menschheit singt, spielt, tanzt und musiziert seit Jahrtausenden und findet dennoch nicht in den Garten Eden zurück.

Was läuft da schief? Ist der Botenstoff womöglich instabil und baut sich nach dem Musikerlebnis zu schnell wieder ab? Wirkt er benebelnd, macht trunken, stört Gleichgewichtssinn und Orientierung, so dass Homo sapiens nicht mehr nach Hause findet? Unter Einfluss der Substanz fühlt man sich momentan zwar gehoben, geliebt und andere liebend, weiß aber nicht mehr, wozu, warum, wohin mit der Euphorie. Lagen die Hippies und Blumenkinder falsch, als sie „Make Love not War!“ skandierten? Hätten sie mit „Make Music not Love“ den Vietnam-Krieg vielleicht schneller beendet?

Prof. Clemens Kirschbaum von der TU Dresden kommentiert die Ergebnisse der Studie als „wirklich erstaunlich“. So etwas habe er bisher nur „sehr, sehr selten gesehen“.

Hat man einmal angefangen, über den Befund nachzudenken, reißt die Kette weiterer Fragen nicht ab. Selbst wenn man die reißerische Betitelung abzieht und der Dresdner Marketingabteilung die erhoffte Sexyness gönnt, dient das gemessene Neuropeptid primär dazu, die Gebärmutter zum Einsetzen von Wehen und die Brustdrüsen zur Produktion von Milch zu stimulieren. Was hat das mit Musikhören zu tun? Sex, Gebären und Musik sind etwas Wunderbares. Aber doch recht verschieden. Macht es Sinn, sie zu vergleichen? Wären alle Musikbegeisterten dann nicht auch irgendwie sexbesessen? Schießt einem bei Bruckner die Milch ein? Oder ist es womöglich egal, zu welcher Musik unter welchen politischen Vorzeichen man Gemeinschaften bildet? Schon Paul Bekker beschrieb in „Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler“ (1918) die „gesellschaftsbildende Kraft“ von Musik. Doch leider zeigten wenig später die Nazis, dass sich diese Kraft wie alles andere vergiften lässt: Zusammenhalt wird dann zur rassistischen Volksgemeinschaft, Heimatliebe zur welterobernden Allmachtsfantasie, Patriotismus zum bedingungslosen Führerprinzip.

Und wie steht es um Denken, Vernunft, Vorstellungskraft? Würden wir Menschen nur von hormonellen Cocktails gesteuert, könnte man die demokratischen Mühen der freiheitlichen, zielorientierten und sachlichen Diskussion durch eine viel bequemere Chemokratie ersetzen. Nach dem Vorbild von Aldous Huxleys Dystopie „Brave New World“ bekämen dann alle das Sedativum „Soma“ verabreicht. Und wozu dann überhaupt noch Musik? Viel effizienter ließe sich die benötigte Dosis Oxytocin mit Tabletten einnehmen oder in großem Stil über Trinkwasser oder Klimaanlagen – wie Stanislav Lem in „Der futurologische Kongress“ skizziert – ganzen Städten und Nationen applizieren.

Der Intendant der Dresdner Musikfestspiele Jan Vogler sieht sich durch die wissenschaftlich belegte „positive Wirkung eines schönen Konzerts“ indes für seine weitere Arbeit inspiriert. Tatsächlich eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten. Man stelle sich nur die exponentiell steigenden Mengen dieses Oxy, Taxi, Toxi vor, wenn das Publikum demnächst im Kreis sitzt und sich anfassen und Händchen halten darf. Paare und Gruppen könnten durch interaktive Choreografien noch näher gebracht werden. Man hakt sich unter, schunkelt, tanzt oder marschiert zur Musik. Zu erweitertem Musikerleben könnten auch Serotonine, Endorphine, Halluzinogene, Alkaloide und diverse Psychedelika beitragen. Die Meldung „Musik ist besser als Sex“ versteht sich als frohe Botschaft für das kriselnde Klassik-Musikleben. Aber ist sie das wirklich? Oder bloß eine weitere Umwegrentabilität – diesmal eine hormonelle –, weil einem sonst nichts anderes zu Musik und ihrer Rechtfertigung mehr einfällt?

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