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Mathis Ubben. Foto: Nerea Lakuntza

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Schluss mit „nur Bahnhof“

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Cluster 2024/05 von Mathis Ubben
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Vor kurzem habe ich mit einer Bekannten über gute und schlechte Bahnhöfe gesprochen. Das Privileg, ein weißer und relativ großer Mann von meist guter Gesundheit zu sein, bringt eine gewisse Naivität mit sich. In diesem Fall dachte ich, Gütekriterien von Bahnhöfen wären die Kürze der Wege, viele Züge bei wenig Zugluft und ein Konsumangebot, das den obligatorischen Zugausfall von einer urbanen Survival-Prüfung trennt. Ich muss feststellen, dass ich mich Bahnhöfen gegenüber wie ein Baby verhalte: Hält er mich warm, satt und trocken, gebe ich mich ihm mit einem Urvertrauen hin.

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Die Gütekriterien meiner Bekannten waren komplett anders gelagert. Zwar fand sie kurze Wege auch von Vorteil, allerdings nur, weil sie an Bahnhofseigenschaften einzig einen Anspruch stellt: möglichst wenig Belästigung ausgesetzt zu sein.

Ich möchte es nicht beschönigen: das ist mir nicht nur nicht in den Sinn gekommen, ich konnte mich auch an keine Situation erinnern, in der ich eine Belästigung oder Schlimmeres am Bahnhof beobachtet hätte. Die glücklicherweise nie selbst gemachten Erfahrungen haben mich in der Sache unglücklicherweise empathielos, unsensibel und blind gemacht. Ob ich den Mut gehabt hätte einzugreifen, weiß ich tatsächlich nicht, aber dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach mehrmals nicht auf belastendes bis nötigendes Verhalten reagiert habe, weil ich es aus mangelnder Betroffenheit übersehen habe, hat mir zu denken gegeben. 

Dieser Zustand spiegelt sich auch in der Weise wider, wie unsere Gesellschaft mit Missbrauch, Belästigung und Diskriminierung umgeht: Viel zu viele „Aufarbeitungen“ bearbeiten das Problem nur da, wo es gemeldet wurde, behandeln es als vergangen und verlangsamen ihre Bemühungen, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit weitergezogen ist. Eine Präventionsarbeit, dort wo regelmäßig Eins-zu-Eins-Situationen mit Abhängigkeitsverhältnis entstehen, wirkt in diesem Zusammenhang geradezu utopisch.

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Umso wichtiger und beeindruckender ist solch eine Anstrengung, wie sie zum Beispiel die Münchner Musikhochschule unternimmt. Zwar auch ausgehend von vergangenen Fällen, wird sich hier aber nicht auf die Vergangenheit beschränkt, sondern eine Veränderung der Gegenwart für eine freiere Zukunft ehrlich in Angriff genommen.

Ein erster Schritt für Naivlinge wie mich muss sein, den Fokus anzupassen: warm, satt, trocken und gewaltfrei.

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