Zum 40. Mal fanden in Regensburg die 1984 gegründeten Tage Alter Musik statt. Wenn man dieses sensationell erfolgreiche Festival zum Maßstab nimmt, ist die Szene nach wie vor bestens aufgestellt.

Schacht-Konzert für drei Oboen: Xenia Löffler, Alfredo Bernardini, Michael Bosch und die Batzdorfer Hofkapelle. Foto: Juan Martin Koch
Brillant, unterhaltsam, paradiesisch: Zur 40. Ausgabe der Tage Alter Musik Regensburg
Zum Jubiläum gönnten die Festivalmacher sich ein noch üppigeres und gehaltvolleres Programmbuch als in den Jahren zuvor. Ansonsten blieb aber alles beim Alten, was in diesem Fall ein gutes Zeichen ist. Das Konzept, am langen Pfingstwochenende in historisch-atmosphärisch herausragenden Spielstätten „einfach“ 16 hochkarätige Konzerte und ein umfangreiches Begleitprogramm zu präsentieren, hat nichts von seiner Überzeugungskraft verloren. Der Beweis: Alles restlos ausverkauft.
Stimmiger als mit dem Eröffnungskonzert hätte es kaum losgehen können. Nachdem sich ein Symposium mit dem vor 500 Jahren geborenen Giovanni Pierluigi da Palestrina wissenschaftlich beschäftigt hatte, wurden wir Zeugen, wie sich eine ganz besondere Aufführungspraxis über die Jahrhunderte erhalten und weiterentwickelt hat: Die Regensburger Domspatzen (die in diesem Jahr 1050 Jahre ihres Bestehens feiern) zelebrierten in „ihrem“ Dom St. Peter diverse Palestrina-Motetten zusammen mit Werken seiner Zeitgenossen und damit einen Kernbestand ihres Repertoires für den liturgischen Dienst. Klangmächtig unterstützt von den Bläsern des Ensembles La Cetra Basel ließen die Knaben und jungen Männer die polyphonen Linien wie selbstverständlich ausschwingen. Der mächtigen Akustik angemessen, dominierten die weiten, homogenen Bögen, ein Gefühl von Zeitlosigkeit breitete sich aus.
Den direkten Vergleich mit einem moderneren (und damit authentischeren?) Zugriff konnte man 24 Stunden später mit dem Tenebrae Choir unter der Leitung von Nigel Short ziehen. Der mit bewährter Makellosigkeit agierende Chor setzte dabei durchaus eigene Akzente: Zum einen stehen den herausragend klaren hohen und tiefen Außenstimmen in Alt und Tenor etwas markantere, minimal angeraute Stimmtypen entgegen. Dies verleiht der polyphonen Struktur eine Tiefenschärfe und Kontur, welche die sprichwörtlich gewordenen Satztechnik bei aller Ebenmäßigkeit sehr gut vertragen kann. Zum anderen artikulierte der Chor die Motette „Vir Galilaei“ überraschend zupackend und kontrastreich, was in einige Passagen der nach der Motette geformten Missa fortwirkte.
Ähnlich überragend geriet das Porträt der bemerkenswerten Barbara Strozzi. Dass die thematische Einteilung der Madrigale, Arien und Duette in fünf Akte etwas gewollt wirkte und kaum mit den vertonten Texten zusammenpasste, war vergessen, sobald man an den Lippen von Dorothee Mields und Hana Blažiková hing. Die Finesse und Hingabe, mit der die beiden Sopranistinnen sich in Strozzis wohliges Affektgewitter stürzten, war hinreißend, die Begleitung durch das Hathor Consort exquisit.
In die Madrigalwelt Luzzasco Luzzaschis, genauer gesagt in seine 1601 veröffentlichte Sammlung für ein bis drei Sopranstimmen mit ausnotierter Begleitung, führte das Ensemble La Néréide. Camille Allérat, Julie Roset und Ana Vieira Leite übernahmen dabei die Vokalparts jenes legendären „Concerto delle Donne“, das Ende des 16. Jahrhunderts in Privatkonzerten den Herzogshof von Ferrara entzückte. Trotz der Überakustik der Minoritenkirche durfte man sich dank des guten Gesangs und der feinen Instrumentalanteile ein gutes Stück weit in die Intimität dieser Musik hineingezogen fühlen.

Die Madrigalwelt des Luzzasco Luzzaschi: La Néréide. Foto: Juan Martin Koch
Leichtgewichtiger und launiger geht es in den etwa zur selben Zeit in Spanien entstandenen „Ensaladas“ von Mateo Flecha zu. Das Ensemble Cantoriá servierte die munter Weltliches und Geistliches, Latein und Spanisch zusammenwerfenden „Salate“ mit Spielfreude und Witz. Gleiches gilt für die Tanzmusik des 13. bis 16. Jahrhunderts, mit der uns die famos auf Blockflöten, Pommern, Busine und Zugtrompete aufspielenden Musiker von Into the Winds beglückten. Ein paar Gesangseinlagen mehr – der mitreißend rhythmisierende Laurent Simon tat sich einmal hervor – wären durchaus willkommen gewesen.
Dass der Zerbster Hofkomponist Johann Friedrich Fasch nicht vor Telemann und Bach versteckt werden muss, zeigte Musica Gloria aus Belgien. Die erfreulicherweise aus einem Jugendensemble hervorgegangene Formation präsentierte seine durchaus eigensinnigen Ouvertüren, Sonaten und Konzerte in prägnanter Kammerbesetzung, darunter ein aberwitziges Fagottkonzert, bei dem ein dezentes Aus-der-Kurve-getragen-werden fast schon einkomponiert zu sein schien.

Feines von Fasch: Musica Gloria. Foto: Juan Martin Koch
Aberwitzig und dabei schwindelerregend perfekt war das, was Augustin Lusson in zwei Violinkonzerten Jean-Marie Leclairs solistisch ablieferte (Opus 7, Nr. 1 und 2). Zusammen mit seinem Beggar’s Ensemble brachte er diese und weitere französische Kabinettstücke (Rameau, Royer, Boismortier) in mitreißender Manier zum Funkeln. Einzig das extreme Anschwellen von Tönen wirkte auf Dauer etwas einförmig.
Für das Konzert der Batzdorfer Hofkapelle war die Basilika St. Emmeram ein denkbar authentischer Ort, schließlich liegt die Thurn und Taxis’sche Hofbibliothek, aus der das Repertoire stammte, etwa 50 Meter Luftlinie entfernt auf dem selben Grundstück. Neben Haydns herrlicher „Schulmeister“-Sinfonie und einer Sinfonia von Johann Gottlieb Graun zelebrierten Xenia Löffler, Alfredo Bernardini und Michael Bosch das spektakuläre Konzert für drei Oboen des Taxis-Hofmusikintendanten Theodor von Schacht, das nach der CD-Premiere auch „live“ einen höchst unterhaltsamen Eindruck hinterließ.

Leclairs Aberwitz: Augustin Lusson und das Beggar’s Ensemble. Foto: Juan Martin Koch
Alfredo Bernardini war dann auch die treibende Kraft hinter dem umwerfenden Programm rund um „Wahnsinn und Verrücktheit“ in der Musik, das sein groß besetztes Zefiro Barockorchester (Elisa Citterio brillierte als Konzertmeisterin und Violinsolistin) mit Verve und echtem Humor präsentierte. Johann Joseph Fux überraschte mit seinem „Nachtkonzert“ nebst Schnarch-Bass; Jan Dismas Zelenkas „Hypochondria“ bestach durch seine Originalität; Reinhard Kaisers Ouvertüre zum „lächerlichen Printz Jodelet“ lief mit Bühnentanz und Positionswechseln des gesamten Orchesters völlig aus dem Ruder; als dankenswerterweise einziges längeres „Follia“-Stück bot Francesco Geminianis Concerto grosso in Variationsform nach Corelli erstaunlichen Einfallsreichtum – grandios!
Zurück zum Ernst der Kirchenmusik: In einem ausufernden Programm stellten Solomon’s Knot Johann Sebastian Bachs Trauerode BWV 198 einer neuen Rekonstruktion der bis aufs Libretto verschollenen Köthener Trauermusik BWV 1143 gegenüber, die in weiten Teilen aus Parodien der Trauerode und der Matthäus-Passion besteht. Das Fehlende hat Chad Kelly als Stilkopien neu komponiert, darunter die Rezitative und eine ambitionierte Choralfuge. Das alles wollte sich nicht so recht zu einem packenden Ganzen runden, was auch an der Interpretation lag. Als Chor überzeugten die acht (das komplette Programm auswendig singenden!) Vokalsolisten durchaus, in den Arien schienen sie allerdings bisweilen mehr für die Mikrophone als für den großen Kirchenraum zu singen.
Den selben Raum, die Dreieinigkeitskirche, versuchten Ars Antiqua Austria mit höfisch-geistlichem Prunk Passauer und Salzburger Provenienz zu erfüllen. Das funktionierte nur bedingt, da die wackeren St. Florianer Sängerknaben schlicht zu dünn besetzt waren. Immerhin bot Heinrich Ignaz Franz Bibers Vesper von 1674 mehr Substanz als die Missa Laetemurine von Benedikt Anton Aufschnaiter, so sehr der im Konzert durch Hexenschuss beeinträchtigte, dennoch wortmächtig ins Programm einführende Geiger und Dirigent Gunar Letzbor auch für ihn warb.
So war es dem krönenden Abschlusskonzert vorbehalten, etwas von der Faszination der italienischen Mehrchörigkeit in die Gegenwart zu holen. Der in fünf Gruppen aufgeteilte, 40-köpfige Chor des Concert Spirituel ließ, von zahlreichen Bläsern und einem leider enervierend schnarrenden Regal umtönt, ein imaginäres Florentiner Johannesoffizium erstrahlen. Die differenzierte Pracht, die das Kollektiv in Werken von Orazio Benevoli, Alessandro Striggio und anderen entfaltete, war atemberaubend. Hervé Niquet regelte als souveräner Schutzmann den Klangverkehr. „Diese Lust, diese Ruhe, dieses Ende, dieses Ziel, sie ziehen uns von hier geradewegs ins Paradies!“ So lauteten passenderweise die das letzte Werk und somit das ganze Festival beschließenden Worte.
Wie es mit den Tagen Alter Musik in den kommenden Jahren weitergeht, wird sich zeigen müssen. Stephan Schmid und Ludwig Hartmann, die das Festival erfunden haben und seit über 40 Jahren mit Herzblut ehrenamtlich leiten, deuteten an, dass sie langsam daran denken müssten, die Verantwortung Stück für Stück in jüngere Hände zu übergeben. Dass dies bestens gelingen möge, wünschen wir uns alle.
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