Die Künstlerpersönlichkeit Ferruccio Busonis schwankt noch in der Beurteilung der Allgemeinheit. Man ehrt in ihm den universellen Geist, den tiefsinnigen Denker, in seiner überragenden Stellung als Tonkünstler jedoch vornehmlich den außergewöhnlich begabten Pianisten und Lehrer. Der schöpferische Musiker in ihm gilt mehr als theoretischer Woller, denn als wirklicher Erfüller.

Neue Musik-Zeitung – Vor 100 Jahren
Vor 100 Jahren: Ferruccio Busoni: „Doktor Faust“– Uraufführung in der Dresdner Staatsoper
Lebenslang hat Busoni, selbst eine faustische Natur, mit dem Faustproblem gerungen. Wie er in heiliger Scheu vor Mozart den „Don Juan“-Plan aufgab, so ließ ihn die Ehrfurcht vor Goethe von einer Anlehnung an dessen Faustdichtung Abstand nehmen. Er griff zur gemeinsamen Quelle, dem alten Puppenspiel, bezeichnet jedoch in Bescheidenheit sein Textbuch als eine „Ballonhülle ohne Gas“. Und in der Tat, die absichtlich lose aneinandergereihten Szenen ergeben weder ein klares Bild des volkstümlichen Spiels, noch gelingt es dem Dichter, ihnen Blut und Leben einzuhauchen. Geistvolle Wendungen und sprachkünstlerische Übersinnlichkeit gewinnen die Oberhand.
Auch die Musik erfüllt ihre Aufgabe nur zum Teil. Mit den modernen Ausdrucksmitteln des Orchesters werden Stimmungsbilder in satten Farben gezeichnet, und trotzdem liegt über dem Ganzen eine gewisse Eintönigkeit. Ganz abgesehen von der Breite der musikalischen Ausführung, in die sich der kranke Meister immer wieder verlor. Die Singstimmen sind prächtig geführt, besonders der Chorsatz verrät den gewiegten Könner, und, wie gesagt, die glänzende Instrumentation tut das ihrige, aber das Herz geht leer aus. Zuweilen entbehrt man die hellen Frauenstimmen, vor allem den leuchtenden Sopran. Am fühlbarsten im fünften Bilde.
Mit einer packenden Oster- und Frühlingssymphonie beginnt das Werk. Stimmen von oben leiten zum „Prolog“ über, der den echten Dichter im Musiker erkennen läßt. Ponto sprach mit feinem Verständnis dies Dokument über die Entstehung der Oper. Nun folgen zwei Bilder in Fausts Studierzimmer. Die höllischen Dämonen erscheinen, in verschiedenen Flammen versinnbildlicht. Der Pakt mit Mephisto wird geschlossen. Wundervolles Glockengeläute und der prachtvolle Osterchor kontrastieren wirksam zu dem diabolischen Einschlag der Musik. Drittes Bild im Münster! Faust hat ein unschuldiges Mädchen betört, Mephisto läßt den Bruder töten, der am Kreuze den Himmel um Rache anfleht. Hier fesselt stimmungsvolles Orgelspiel. Ein gut rhythmisiertes, bewegtes „Intermezzo“ südlichen Kolorits leitet in die entzückende Szenerie des herzoglichen Parkes von Parma über. Buntes, festliches Gewoge zum Einzug des jungen Paares. Faust bezaubert und entführt die schöne Herzogin an ihrem Hochzeitstage. Die Musik zeigt hier reiche Gegensätzlichkeit, ohne auf besondere Eigenart Anspruch zu erheben. Im fünften Bilde, in der Studentengaststube zu Wittenberg liegt über der Musik Schwermut und eine gewisse Stumpfheit. Meisterlich die Kontrapunktik des „Tedeums“ und der „Festen Burg“ im halbgrotesken Streitchor der katholischen und protestantischen Studenten. Mephisto bringt das tote Kind der Herzogin, flüchtig erscheint die Glanzgestalt Helenas, doch schon naht für Faust die Abrechnung. Mannhaft rüstet er sich zum letzten Gang. Schade, daß das Vorhergehende zu sehr zerdehnt und nur das Schlußwort in diesem vorletzten Teile der Oper prägnant ist. Im sechsten Bilde muß Faust erkennen, wie der einstige Famulus Wagner an seiner Stelle die-selben Ehrungen der Menge genießt. Er bricht am Kreuze sterbend zusammen mit dem Ausblick auf die geistige Wiedergeburt. Der letzte Monolog wurde nachträglich von Busonis Schüler Philipp Jarnach komponiert, so gut, wie eben ein anderer Geist den Wegen eines Genies folgen kann. An und für sich ist diese Arbeit des Neutöners eine starke Talentprobe.
Die Aufführung war von Fritz Busch mit großer Hingabe vorbereitet worden. Er bemühte sich, musikalisch im Sinne des Meisters zu wirken und hatte wohl auch dieserhalb keine erheblichen Kürzungen vorgenommen, allerdings nicht zum Wohle des Werkes, dem Striche nur förderlich sein können. Alfred Reucker führte die Regie mit feiner Einfühlung, aber mehr im Stile der älteren Ausstattungsoper. Kammersänger Robert Burg war der glanzvolle Vertreter der umfangreichen Titelrolle, Theo Strack der ungemein bewegliche Mephisto, dessen Tenorstimme gegenüber dem pastosen Bariton Burgs manchmal schweren Stand hatte, der aber sonst auch gesanglich Ausgezeichnetes leistete. Meta Seinemeyer sang die Sopranpartie der Herzogin wundervoll; ihr Monolog im Parma-Akte, mit süßestem Wohllaut geboten, ist in einer glücklichen Stunde geboren, der „ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht“. Leider hinderte ein Unfall auf der Probe die Künstlerin an der vollen Bewegungsfreiheit, die sie jedoch heldenmütig vortäuschte. Für die Chöre zeichnete diesmal Ernst Hintze; er hat seine schwierige Aufgabe vorzüglich gelöst. Die Bühnenbilder stammen von dem Slevogt-Schüler Karl Dannemann (nach Rötelzeichnungen Busonis), besonders der herzogliche Park ist sehenswert. Der äußere Rahmen des Werkes (einschließlich der für die Maschinerie zu lösenden Aufgaben) fordert restlose Bewunderung heraus. Die Zuhörerschaft ging zögernd auf die Schönheiten des Werkes ein, eine Ermüdung durch die lange Dauer der Aufführung war unverkennbar.
Busonis „Doktor Faust“ wendet sich mehr an die Zünftigen, mehr an den Geist als an das Gefühl. Am Schlusse wurde allen Beteiligten reicher Beifall zuteil für ihre mühevolle Arbeit und damit für ihre Verdienste um das Testament eines Großen im Reiche der Töne.
Prof. H. Platzbecker, Neue Musik-Zeitung, 46. Jg., Heft 20, Juli 1925
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