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Vor 50 Jahren: „La Cubana“ – Henzes neues Bühnenwerk in München uraufgeführt

Untertitel
Neue Musikzeitung, XXIV. Jg., Nr. 4, August 1974
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Das massierte Buhgeschrei wider Hans Werner Henze und Hans Magnus Enzensberger am Ende der Uraufführung am Gärtnerplatztheater in München darf nicht darüber hinwegtäuschen: dieses neue Stück, „La Cubana“ genannt, wird gewiß seinen Weg über die Bühnen nehmen. 

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Die Schwächen dieses Abends sind vor allem Schwächen der Aufführung. Zeit und Schauplatz des Geschehens werden vom Publikum vermutlich weniger, als Enzensberger sich das erhofft, als parabelhaftes Beispiel für Dinge genommen, die uns näher sind, sondern vielmehr als eine exotisch drapierte Operettenwelt, an der man sich, genüßlich in seinen Sessel zurückgelehnt, delektiert. Kuba und Habana, die frühe Zeit unseres Jahrhunderts vor und nach dem ersten großen Krieg, der an der Zuckerinsel vorüberging, das stickige Milieu der Halbwelt und des Talmiglanzes – von Jürgen Henze, dem Bruder des Komponisten, ist das alles bis in die Kostüme hinein, die die wechselnden Moden genau spiegeln, mit enormem Sinn für Atmosphäre eingezaubert worden.

Die Bühne, hinweggezogen über den Orchestergraben, zweiteilt, ja sie dreiteilt sich. Vorn zur Linken sitzt Rachel, die altgewordene Diva des Tingeltangels, wie eh und je dümmlich und ausschließlich fixiert auf ihre einstigen Erfolge beim Publikum und bei den Männern. Sie erinnert sich – und auf der Hauptbühne sieht man, wie dieses „Leben für die Kunst“, so der ironisierende Untertitel des Werkes, gewesen ist oder vielmehr, wie Rachel glaubt, daß es gewesen sei. Zur Rechten postiert sich dazwischen immer wieder der Chor der Zeugen, die damals dabeigewesen und nun, ebenfalls alt geworden, kommentierend besingen, was einstens alles geschah. Fast folkloristisch und keusch, von Maultrommel, Blockflöte oder Mundharmonika begleitet, klingen diese Chorsätze, sich scharf abhebend gegen die Abgewetztheit der Kmmerzmusik des unterhaltenden Genres.

Rachel, die zweifelhafte Heldin des Stückes, hat wirklich gelebt, lebt offenbar heute noch; über die achtzig alt, in Habana. Der kubanische Schriftsteller Miguel Barnet hat sie in den späten sechziger Jahren interviewt und ein Buch über sie geschrieben, das Enzensberger den dokumentarischen Rohstoff zugeliefert hat, mit dem er, natürlich berechtigt, frei geschaltet hat. Ein Leben für die Kunst: Das meint ein Leben durch Nachtlokale, Etablissements und Zirkusszenen hinauf in die Operettenwelt des Alhambratheaters, ein Leben zwischen Bühne, Garderobe und Liebhabern, an dem die wirkliche Welt abprallt, als existiere sie nicht. Enzensberger stellt sie immer wieder der „Künstlerin“ entgegen – die Armen und die Bettler, die Battista-Diktatur und die aufbegehrenden Studenten, Demonstranten und Polizisten sowie, ein Henzesches Selbstzitat quasi, die aufständische Gruppe des Cimarrón: Konternde Staffage nur für Rachel, die selbst im Alter nicht aus ihrer Pseudowelt herauswill.

Musik „begleitet“ hier nicht das Geschehen – sie entspringt vielmehr der Handlung selbst, und folgerichtig sitzen keine Musiker im Orchestergraben. Sie spielen vielmehr in wechselndem Kostüm im Stück selbst mit, in der Tanzband oder im Operettenorchester in der Zirkuskapelle oder in der Bläserschar, die einen Trauerkondukt begleitet, Zitate schießen herein, die Mondscheinsonate sogar, die eine höhere Tochter hinterm Fenster klimpert, während sich auf der Straße Zuhälter ein blutiges Gefecht liefern. Henze greift die Muster heruntergekommener Tanz- und Vulgärmusik auf und führt sie wieder, sie in sein Idiom veredelnd, in die Sphäre der Kunstmusik hinauf, in eine zeichnerische Schwerelosigkeit, womit er es sich schwerer gemacht hat als einstens Kurt Weill und womit er es vor allem auch seinen Interpreten schwerer macht. An Tamara Lund, die die junge Rachel spielt, zeigt sich das am klarsten. Die junge Finnin, die Eitelkeit und Egozentrik der vom Flittchen zur Showdiva hochgekommenen Rachel hinreißend ausspielt, kann einen Tango oder Paso doble nicht so direkt und aggressiv ans Publikum bringen wie einen Weillschen Song. Die Texte Enzensbergers forderten dies schon – indessen, Henzes Musik sperrt sich wiederum dagegen, weil sie Rachel so viel Koloratur und Virtuosität abfordert, daß zum kunstvollen Ziergesang wird, was einen Schuß schmissiger Vulgarität gut vertragen könnte: Trotzdem – Tamara Lund ist das Zentrum der Aufführung […]

„La Cubana“ wird manche spätere Aufführung gewiß schlagkräftiger, attackierender präsentieren, und Henze selbst wird das Seine dazu tun können, wenn er in der kommenden Spielzeit sein jüngstes Stück in Wuppertal inszenieren wird.

Peter Dannenberg, Neue Musikzeitung, XXIV. Jg., Nr. 4, August 1974

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