Eine Frage beschäftigt mich als Lehrer ungemein – kann man Originalität vermitteln? Kann man lernen, unkonventionell zu sein?

Moritz Eggert.
Die clevere Kuh
Natürlich ist mir bewusst, dass dies zu einem großen Teil mit Talent zu tun hat. Aber es gibt sehr viele talentierte junge Komponierende, die nicht versuchen, originell zu sein und die sich erstaunlich schnell damit zufrieden geben, in einem schon existierenden Stil epigonal zu komponieren. Sie sind weder neugierig noch abenteuerlustig. Andere haben eine eher rebellische Natur und gehen immer einen eigenen Weg, es fehlen ihnen aber manchmal die Mittel oder schlicht und einfach das Handwerk, ihre Ideen überzeugend umzusetzen. Beide Arten von Komponierenden können aber die Kurve kriegen, wenn sie sich dieser Problematik bewusst werden.
Es braucht immer Zeit, bis ein eigener Weg gefunden ist. Auch ein Mozart hat als Kind erst einmal fleißig das kopiert, was um ihn herum erklang, und dies mit großer Virtuosität. Es zeichnet ihn aus, dass ihm dies irgendwann nicht mehr genug war.
Muss man originell sein? Ich denke ja – natürlich gelingt es nur den wenigsten, aber das Unoriginelle setzt sich nicht genug von der Masse ab, fällt nicht auf, bleibt durch seine Ähnlichkeit mit Existierendem auf der Strecke. Kunst ist ein Konkurrenzkampf – wer nicht genügend auffällt, hat es schwer. Etwas Neues und Originelles wird sich immer durchsetzen, wenn auch nicht sofort. Daher gibt es in der Musikgeschichte zahllose Beispiele geschickter „Raubkopien“ – da wurde schnell etwas nachgeahmt, was sich noch nicht wirklich etabliert hat und es wurde erfolgreicher als das, was die Ideengeber ursprünglich ablieferten. Alles eine Frage des Timings.
Ich verwende meinen Studierenden gegenüber gerne das Bild einer großen grünen Wiese, auf der Kühe weiden. Ist das Gras irgendwo besonders grün, trottet eine Kuh nach der anderen dort hin und beginnt zu fressen, denn es spricht sich schnell auch unter Kühen herum, wo das Gras grün ist. Erst sind es wenige Kühe, dann immer mehr, schließlich sammeln sich die meisten Kühe dort, wo man das Gras besonders saftig wähnt. Nur ist es nun schon zu spät – die letzten Kühe, die zum einst verheißungsvollen Ort pilgern, finden nur noch trockene Erde vor, das Gras ist abgefressen.
Eine clevere Kuh folgt also nicht der Masse, sondern sucht sich weitab vom Schuss einen Flecken Weide, den niemand auf dem Schirm hat. Unbemerkt von der Herde wächst hier wesentlich frischeres Gras, die anderen Kühe haben dies nur noch nicht bemerkt.
Ein gutes historisches Beispiel für diese Strategie ist Igor Strawinsky, der seiner Zeit immer einen kleinen Schritt voraus war. Man kann richtig spüren, wie es ihm fast physisch unangenehm war, etwas zu machen, was andere auch machen. Und er ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Suche nach dem grünen Gras keineswegs nur an bisher unentdeckten Orten erfolgreich sein kann, sondern dass es auch möglich ist, einst abgeweidete Stellen der Weide erneut zu besuchen – das Gras ist inzwischen nachgewachsen, unbemerkt von allen.
Man kann Strawinsky also guten Mutes als einen stets originellen und unkonventionellen Komponisten bezeichnen, der die Strategie der „cleveren“ Kuh erfolgreich anwendete.
Ein Komponist wie Messiaen ist in diesem Kontext ein interessanter Fall. Einerseits kann man ihn als hochoriginell bezeichnen, denn so wie er komponierte vorher (und auch nachher) eigentlich niemand. Gleichzeitig begnügte er sich schnell damit, dass einmal Gefundene endlos zu wiederholen, wenn auch in immer neuen Konstellationen. Man kann ihn sich als eine Kuh vorstellen, die einen Zaun um ihr Stück Weide gebaut hat und dort friedlich allein weidet. Auch eine Strategie.
Natürlich möchte ich meine Studierenden gewiss nicht mit Kühen vergleichen. Aber man kann eine Menge von ihnen lernen. Nicht nur von den Kühen, sondern auch von den Studierenden.
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