Tüpfelchen auf dem Konzept-I des politisch fokussierten Kunstfests Weimar 2025: Die Uraufführung einer Oper nach Günter Wallraffs Bestseller-Reportage „Ganz unten“ von 1985 aus türkischer Perspektive. Emotional, effektvoll und sehr milde geben sich der Fusion-Komponist Sabri Tuluğ Tırpan und Textdichter Mehmet Ergen. In der Redoute des Deutschen Nationaltheaters gab es viel anerkennenden Applaus für eine angenehm aggressionsfreie 55-Minuten-Studiooper mit guten Zukunftschancen.

GANZ UNTEN. Foto: © Thomas Müller
40 Jahre später: Eine Oper nach Günter Wallraffs „Ganz unten“ beim Kunstfest Weimar
Wie ist der passgenaue Sound für eine Investigativ-Reportage? Beim Komponisten Sabri Tuluğ Tırpan und dem von ihm mit dem Geiger Bora Gökay und dem Cellisten Burak Ayrancı gebildeten Trio hat er eine Nuance von Songs aus Kurt Weills deutschen Bühnenwerken, etwas Atmosphäre à la Erik Satie und akademische Gründlichkeit. Von Neuer Deutscher Welle, welche mit dem kometenhaften Bestsellerruhm von Günter Wallraffs heute sprichwörtlicher und damals skandalisierender Enthüllungsarbeit „Ganz unten“ (Erstausgabe 1985) ihren Zenit ansteuerte, also keine Spur. Aber auch nicht vom türkischem Ethnopop, der sich damals von Flensburg bis Berchtesgaden langsam zwischen Rembetiko und Adriano Celentano aufzurecken begann und in Szenelokalen zum Sound der 1980er beitrug, während Gastarbeitende am tückischen bis schleichend tödlichen Arbeitsleben Blessuren erlitten und Schaden nahmen.
Trotzdem ist das Projekt einer Doku-Oper mit einem horriblen Sujet vom beginnenden Niedergang des deutschen Wirtschaftswunders – wie zur leider nicht ausverkauften einzigen Vorstellung im Kunstfest Weimar – ein Muss. Die plakative Szenenfolge der Oper von Sabri Tuluğ Tırpan und Mehmet Ergen kommt ganz ohne Aggressionen aus, verzichtet aufs Lamentieren und spiegelt die 1980er Jahre nüchtern, ja fast schüchtern. Die Bühne der Redoute im Norden Weimars, der zukünftigen Vollspielstätte während der angekündigten Sanierungsphase des Deutschen Nationaltheaters, ist schwarz. Die den bundesrepublikanischen Zeitgeist der Vorwendejahre sacht spiegelnden Kostüme von Defne Özdoğan und das monoton flächige Licht machen sparsame eine dichte, aber wenig suggestive Atmosphäre. Dabei stilisierend und realitätsnah: Das Leben „Ganz unten“ in den 1980ern kannte Großstadt-Glitzern nur verschwommen, kannte außer in der Autoschieber-Szene keine Statussymbole, erst recht kein Kir Royal à la Kroetz und keine Surfbretter. Die Bügelfalten der Job-Adepten mit Migrationshintergrund und der Finanzmogule mit kriminellem Potenzial bilden gerade Kurven. Eine saubere Armut wird sichtbar und das Licht von Richard Williamson wirkt leicht schmutzig.
Bei Festivals mit internationalen Gastspielen fällt immer auf, dass Stücke mit klaren politischen Anliegen eine inhaltlich und ästhetisch klare Sprache nutzen. Das trifft auf Mehmet Ergens Regie zu. Diese ist für sechs Darstellende in den vielen Rollen übersichtlich strukturiert, deutlich und leise. Die Theatermittel schließen kabarettgemäße Tanznummern ein. Der Autor Günter Wallraff und die von diesem für die Recherchezüge selbst verkörperte Prekariatskunstfigur Ali sind in zwei in ihrer Physiognomie sehr unterschiedliche Darsteller aufgespalten. Diese Brechtsche Verfremdung ist eine unter mehreren und hat Vorzüge. Der schlanke Günter Wallraff (Ryan Wichert) mit Brille kommentiert, reflektiert, räsoniert. Der größere, leicht bullige und vom Arbeitsstress bald entpersönlichte Ali (Bural Bilgili) agiert langsam und damit langsamer als die ihn permanent ausbootende Umwelt. Wallraff spricht viel. Ali singt häufiger, meistens geschlossene Melodien und resignative Aufwallungen.
Für Wohlstandsdeutschland aber war Wallraffs Report über die zynischen Türkenversuche, weil billiger als Tierversuche, und die mit hohem Krebsrisiko verbundenen Wartungsarbeiten in den mit radioaktiven Dämpfen verseuchten Rohrgängen der Atomkraftwerke ein Informationsschock. Wallraff durchbohrte gut gepolsterte Verdrängungen. Heute sind die Wissensbarrieren um Glanz und Elend des Turbokapitalismus weiter verbreitet als damals. Die Videos und Fotodokumente aus den 1980er-Jahren machen die krasse Faktenfülle von Text und Oper leider etwas klein, wirken wie staunendes und affektives Studierendentheater angesichts einer die Spielenden überwältigenden Welt. Güvenç Dağüstün, Lou Strenger, Ömer CemÇ oltu und Talha Kaya sind höchst engagierte, emotional präsente und agile Darstellende für das keineswegs einfache Choreographie-Design von Beyhan Murphy und Mert Öztekin. Trotzdem: Die Härten und Spaltungen von heute sind mindestens ebenso sozialdarwinistisch, menschenfeindlich, unachtsam und perfide wie vor 40 Jahren. Weil Wallraffs publizistisch-detektivischer Meilenstein deshalb noch immer relevant ist, bleibt die Uraufführungsproduktion etwas harmlos. Viel Applaus und Anerkennung für die Mitwirkenden, auch vom koproduzierenden Goethe Institut und Istanbul Music Association.
Ein Ziel ist erreicht: Die Strukturen der 55-Minuten-Kammeroper wurden deutlich, hinter der musikalischen Weichzeichnung bei der Premiere steckt jedoch einiges mehr. Wenn die Folgevorstellungen und die zweite Inszenierung aus den sanften Anthrazit-Farben mehr Schärfe, gefährliches Gleißen und menschlich-soziale Fallhöhen meißeln, steht einem breiten Erfolg nichts im Wege. Denn nach wie vor ist das Sujet ein echter Knüller.
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