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Ein Theater: Eine Gruppe sitzt in einem Halbkreis. Eine Person präsentiert. An der Rückwand steht hell: "Akademie ZWEITE Moderne".

Einblick ins „Gipfeltreffen“ der „Akademie Zweite Moderne“.

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„Akademie Zweite Moderne“ bei den Wiener Festwochen: Plädoyer für Empathie und Verbundensein

Vorspann / Teaser

Eine „Tiefenbohrung in die Tradition“ versprach der amtierende Intendant Milo Rau im letzten Jahr angesichts der Frage, wie man konservatives Publikum wieder für Kunst und Kultur gewinnen kann. Das mag für Theaterforschung in seiner in diesem Jahr ausgerufenen „Republik der Liebe“ gelten, bei den interdisziplinär ausgerichteten Festwochen stehen explizit musikalische Veranstaltungen dieses Jahr kaum mehr im Mittelpunkt, nachdem man sich im letzten Jahr kurz die Finger verbrannte, als man im Namen der Vielfalt Dauerschweiger Teodor Currentzis parallel zur ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv einlud. 

 

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Doch die Beförderung solcher Debatten – möglicherweise inklusive eines dem Theaterwesen nicht fernen Scheiterns – sind gerade im Sinne des Erfinders. Und so ist der letztes Jahr ins Leben gerufene und auf fünf Jahre angelegte Konzertzyklus der Wiener Festwochen „Akademie Zweite Moderne“ in der Behauptung, sich von einer „eurozentristischen, männlichen und elitären“ ersten Moderne abzusetzen und eine zweite mit Globalisierung und Feminismus in der Gegenwart zu begründen, durchaus auch provokant. 

Die Akademie begreift sich als kollaborativer Prozess: In jedem Jahrgang werden zehn Komponistinnen aus aller Welt vorgestellt, im letzten Jahr gab es dazu eine Deklaration, die Themen setzte, um beispielsweise den „Reichtum einer globalen, gleichberechtigten Musikkultur“ hervorzuheben und überholte, patriarchale Strukturen und Stereotype zu überwinden. In diesem Jahr gab es neben zwei Konzerten auch einen als „Gipfeltreffen“ bezeichneten Kongress, der unter dem Thema „Stories that matter“ diese Relevanzen und Sichtbarkeiten diskutierte. 

Ob das Storytelling dann ein wesentliches Merkmal dieser neuen Moderne ist oder gar ihr treibendes Element sein könnte, durfte dann an den zwei Konzertabenden mit dem Klangforum Wien überprüft werden. Im ehrwürdigen ORF-Sendesaal im Radiokulturhaus wurden dann neun kompositorische Positionen vorgestellt, die im besten Sinne global-grenzenlos erschienen und natürlich durch den akademischen Überbau eine Art Repräsentanz einforderten.

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Eine Frau in lila T-Shirt mit was bläulichen Schwarzen Haaren probt mit einem Ensemble.

Chaya Czernowin arbeitet an ihrem Plädoyer für unheimlich wirkende Fantasie „Fast Darkness III“

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Auffällig erschien, dass nahezu alle Stücke eine selbstbewusste und ebenso kritische Position in der Jetztzeit einnehmen und damit die (musikalische) Kunst mitten in die Gesellschaft platzieren, da wo diskutiert, debattiert und damit auch widersprochen werden darf und muss. Das war an beiden Abenden der Kern einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Realitäten, die von fast atemraubendem Dokumentarismus (akustisches Filmmaterial des Kriegsalltages in Mary Kouyoumdjians „Bombs of Beirut“) über ein mit einem Drahtseil in die Abhängigkeit gezwungenes Ensemble (Niloufar Nourbakhshs „C Ce See“) bis hin zur klanglichen Flutung und Über-Arbeit in Sara Glojnarićs „Sugarcoating“ führte.

Das Storytelling hatte je nach kulturellem Background der Komponistinnen auch eine große Bandbreite und Überzeugungskraft. Berührung löste eine Improvisation von Altsaxophonistin Cassie Kinoshi mit dem Klangforum-Percussionisten Lukas Schiske aus. Es war wohl der intimste Moment der beiden Konzerte, während die auf Drastik ausgerichtete Performance von Jamie Man Musik nur als wummerndes Beiwerk ihrer Körperetüde und vermutlich für die Performer selbst relevanter als für das sich zum Teil die Ohren zuhaltende Publikum erschien. Solch ein persönlich-performativer Exzess mag auf jeden anders wirken, das Zirkuselement als Resultat ist aber nicht von der Hand zu weisen und entwertet fast die Ernsthaftigkeit des Anliegens.

Brücke der Modernen

Dass man im Hinhören, in der Stille auch ganz andere Ergebnisse erzielen kann, erwiesen die in diesem Kontext fast klassisch zu nennenden Ensemblewerke von Chaya Czernowin („Fast Darkness III“ mit einem Plädoyer für unheimlich wirkende Fantasie) oder der wunderbar entgleist-entglittene Debussy-Klang in Lucia Ronchettis „Le Palais du Silence“. Das schuf Platz für (Klang-) Sinnlichkeit und hoffentlich bleibt auch ein alte und neue Modernen verbindendes Element. Das trifft auch für die rhythmischen Explorationen von der Percussionistin und Komponistin Katharina Ernst zu, die über den Rhythmus und prozessuale Vorgänge in spannende Zwischenräume der Musik gelangt.

Dass Empathie zum Storytelling zwingend dazugehört, war nicht nur in der liebevollen Moderation der Soziologin Zethu Matebeni spürbar, sondern auch Motto des 1. Konzertabends. Wenn die Komponistin Hannah Kendall in „shouting forever into the receiver“ die Realität von Plantagenarbeitern in der afrikanischen Diaspora in die künstlerische (europäisch geprägte) Gegenwart einbezieht, könnte Empathie nicht nur Auslöser, sondern zwingendes Element der Aussage sein und tatsächlich: neue Geschichten erzählen, die vielleicht nach einem solchen Konzertabend entstehen und ganz neue Perspektiven zulassen.

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Eine junge Frau mit kurzen braunen Haaren und weißen Hemd dirigiert ein Ensemble.

Irene Delgado-Jimenéz führt das Klangforum Wien mit einem feinen Händchen.

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In allen Belangen gefordert war das Klangforum Wien, das – in einigen Stücken umsichtig und gleichzeitig temperamentvoll-fordernd von Irene Delgado-Jiménez geleitet – vom leisesten Kontrabasstupfer bis hin zum überbordenden Glojnarić-Tutti jede Geste auf den Punkt setzte und im Sinne der Akademie auch das beste Beispiel gab, wie ein Verbundensein Großartiges schafft.

Man darf also gespannt sein, wie die dritte Akademie im nächsten Jahr diese Ambitionen fortsetzt, möchte aber auch angesichts des intensiven Erlebnisses der beiden Abende Milo Rau herzlich zurufen: mehr Musik bei den Festwochen bitte!

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