Nicht dass, aber wo diese „Aida“ stattfand, grenzt an ein Wunder. Das Opernhaus Kassel am Friedrichsplatz muss technisch so gründlich überholt werden, dass es dafür geschlossen werden muss. Das wusste Florian Lutz schon, als er sein Amt als Intendant antrat. 2023 wurde es ernst. So weit, so üblich und misslich für die Theaterleute und ihr Publikum. Was dann aber passierte, klingt schon ein bisschen wie ein Märchen.
Emanuela Pascu (Amneris), Mitglieder des Opernchors und des Extrachors. © Sylwester Pawliczek
Auf Kreuzfahrt in schwerer See – In Kassel wird eine imponierend gelungene Interimsspielstätte mit Verdis „Aida“ eröffnet
Die notorisch klamme und unentschiedene Politik, eine genetisch auf zigfache Absicherung geeichte Verwaltung und Bürokratie, überforderte Baubetriebe und eine ja sowieso immer am Rande des Nervenzusammenbruchs agierende Künstlerschar ließen sich alle zusammen auf das Abenteuer ein, in weniger als zwei Jahren ein Interimsopernhaus zu errichten. Vornehmen kann man sich in Deutschland bekanntlich viel. Und die Politiker, die etwas beschließen, sind längst in Pension, wenn das Vorhaben fertig ist. Oder aufgegeben wird.
Wer in diesem Zusammenhang Köln sagt, denkt an die Oper. Wer Berlin sagt, an den Flughafen; wer Frankfurt oder Düsseldorf sagt, an die Oper (hatten wir schon); wer Stuttgart sagt, längst nicht nur an den Bahnhof, sondern auch dort an die Oper. Deutschland halt.
Wenn der Oberbürgermeister von Kassel jetzt zur pünktlichen Eröffnung von einer Glanzleistung der demokratischen Gesellschaft, einem gegen alle Widrigkeiten erreichten „Yes, we can“, sprach, dann hat er im speziellen Fall Kassel recht. Auf die ganze Republik bezogen aber ist dieses imponierend innovative Interims-Opernhaus eine rühmliche Ausnahme! Sollte die Sanierung des Kassler Theaters abgeschlossen sein, kann man diesen Bau sogar weiterverkaufen. Mehr Nachhaltigkeit geht gar nicht. Der klar strukturierte, 25 mal 50 Meter messende Saal bietet Platz für bis zu 850 Zuschauer. Die traditionelle Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum existiert hier nicht. Es gibt u.a. einen abdeckbaren Orchestergraben. Dazu eine Schwerlasten-Drehscheibe, auf der (wie bei der Eröffnungspremiere) die Zuschauertribüne platziert werden und rotieren kann. Dazu kommen ein großzügiges Foyer und separate Container für den Backstagebereich.
In der Eröffnungsinszenierung des Intendanten Florian Lutz wird das Paar, das sich über die Frontlinie hinweg liebt und nie wirklich eine Chance für ein gemeinsames Leben hatte, zwar nicht, wie bei Verdi vorgesehen, eingemauert. Aber es geht im Dunkel, das am Ende über das imaginäre Europa und zwischen den Gerüsten des neuen Opernhauses hereinbricht, irgendwie verloren. Dieses metaphorische Europa auf Kreuzfahrt war da längst ziemlich weit vom rechten (oder sollte man besser sagen vom linken?) Weg abgekommen.
Nun kann man die szenische Vision, die Peter Konwitschny einst der in eine andere Sphäre entschwebenden Musik im Finale abgelauscht hat, kaum toppen. Bei ihm waren Aida und Radamès aus dem Stück, der Zeit, gar dem Theater ausgestiegen und hatten sich in ihre ferne Zukunft, also auf die Straße hinter dem Theater, wortwörtlich in unsere Gegenwart gerettet. Wobei das über drei Jahrzehnte später wohl auch nicht mehr so eindeutig funktionieren würde, wie es damals in Graz der Fall war.
Mitglieder des Opernchors, Ensemble, Statisterie, Publikum. © Sebastian Hannak.
Dass die Zeiten heute andere sind und eher von aufziehendem Sturm als von ruhigen Fahrwassern künden, wird in dieser Inszenierung jedenfalls glasklar. Allein die offensichtlich mit KI-Hilfe gemachten Videos von Konrad Kästner, die den Sturm auf die Parlamente nach dem Modell der Erstürmung des Kapitols in Washington, als Vision für Deutschland und Europa wie ein Menetekel vor den sterilen, himmelblauen Hintergrund malen; die Militärparade und die martialische Fliegerstaffel, die übers Brandenburger Tor Richtung Osten fliegt; aber auch die beängstigend modellhaft propagierte europäische Musterfamilie oder Orban und Höcke, die sich beim Bad in der Menge bejubeln lassen, wirken in der gestochenen Schärfe der Bilder (und ihrer Botschaft!) beängstigend. Ähnlich ist es mit der Spaltung der Gesellschaft, die auch die Passagiere dieser Aida-Kreuzfahrt am Ende zerreißt. Man kann es allzu direkt finden, wenn die eine Hälfte der Passagiere mit einem Transparent zur Enteignung der Milliardäre aufruft und die andere zu Säuberungen des Straßenbildes. Aber man weiß, was gemeint ist. Ägypten ist es jedenfalls nicht. Abgesehen davon, dass es ein Kanzlerlapsus wohl noch nie so schnell, quasi in Echtzeit, in eine Inszenierung geschafft hat.
Dass man auch im Theater den Namen der von den Ägyptern als Sklavin gehaltenen äthiopischen Königstochter, die sich obendrein in den Feldherrn ihrer Feinde verliebt, mit dem Namen eines beliebten Kreuzfahrtschiffes gleichsetzt, ist nicht ganz so von der Hand zu weisen, wie es auf den ersten Blick scheint. Der kommerzielle Erfolg der von ihm bedienten Ägyptomanie war Verdi nicht fremd. Nach dem Motto „Mitgefangen, mitgehangen“ müssen auch die Puristen den Gedanken hinnehmen, dass Aida als Zimmermädchen (nicht als Sklavin) auf einem Kreuzfahrtschiff die Betten aufschüttelt. Und ein Verhältnis mit dem Mann hat, auf den auch die Tochter des Kapitäns scharf ist. Für diese erste Ebene der szenischen Vergegenwärtigung, ohne die es bei Inszenierungen von Florian Lutz nie geht, sorgt sein Hausszenograf Sebastian Hannak mit seiner An-Bord-Anmutung. In den vor die Seitenwände gesetzten vier Galerien sitzt man in der ersten Reihe. Und an der Reling. Auf der einen Seite des Orchestergrabens auf Liegestühlen, sozusagen an Deck. Gegenüber an Tischen wie beim Dinner. Die Mehrheit der Zuschauer ist auf der anderen Seite des Orchestergrabens auf der Tribüne platziert. Wenn die sich dreht, mit einer Blickerweiterung auf die Bildschirme an der Seite (also mit Meerblick). Sie kommen auch Aida, ihrem Vater und Radamès ziemlich nah, wenn die in einer Luxus-Suite in der Stirnseite, eigentlich im Rücken der Zuschauer, aufeinandertreffen. Bei all dem kommt die Architektur dieses Hauses (an dessen Konzipierung Hannak zusammen mit Lutz selbst beteiligt war) fast auf dem ganzen Weg entgegen, ist das Haus selbst doch ein naher Verwandter der Raumbühnen.
In die zweite, sozusagen politische Ebene der Vergegenwärtigung geht es mit der Überschreibung der Protagonisten durch zeitgenössisches Politikerpersonal. Daran hat die Kostümbildnerin Mechthild Feuerstein den Hauptanteil. Der imponierend höhensichere Radamès Gabriele Mangione ist unschwer als Wolodymyr Selenskyj zu erkennen. Daniela Vega präsentiert ihre Priesterin überzeugend im Habitus einer ihre Truppen motivierenden Ursula von der Leyen. Ian Sidden ist als Kapitän und deutscher Bundespräsident fest an ihrer Seite. Der markant auftretende Filippo Bettoschi wird in diesem Tableau zu einem Amonasro im Habitus von Wladimir Putin. Das hat makabren Witz, wenn er sich bei seiner Begegnung mit seiner Tochter erst hinterm Vorhang versteckt und dann wie Cherubino aus dem Fenster springt. In dieser illustren Reisegesellschaft darf natürlich auch Donald Trump (als Ramfis) nicht fehlen. Das leichte Raunen bei den entsprechenden, höchst gelungenen Auftritten von Sebastian Pilgrim in dieser Rolle richtete sich nicht gegen den Sänger und auch nicht gegen den Priester, den er sang, sondern wohl gegen das präsidiale Alter Ego.
Abgesehen davon, dass Analogien nicht nur erhellend wirken können, sondern auch ihre Grenzen haben, bieten die als kleiner Video-Exkurs eingespielten Verweise auf die von manchen beharrlich wiederholte Anna-Netrebko-Kritik zumindest Stoff für eine Diskussion, ob das illustrierend oder kritisch gemeint ist.
Die beiden Rivalinnen um die Liebe von Radamès bleiben dabei vor allem genau das: Emanuela Pascu ist eine hochpräsente, zupackende, mit dem Porsche anrollende Amneris und Ilaria Alida Quilico eine vielversprechend beeindruckende Aida.
Im künstlerischen Maschinenraum sorgen der lettische GMD Ainārs Rubiķis und das Staatsorchester für die musikalische Antriebskraft und die Balance zwischen der Intimität kammerspielartiger Szenen und den Triumphmarsch-Bläsern. Marco Zeiser Celesti und Anne-Louise Bourbion haben die gewaltigen Chormassen einstudiert.
Wenn die Kreuzfahrt wieder im neuen Heimathafen anlegt, gibt es viel Beifall. Für diese Reise. Und für den neuen Hafen. Dass die herausfordernde Inszenierung auch ein paar Buhs abkriegte, gehört dazu. Irgendwer wird immer seekrank.
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