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Hermann Bäumer bei seiner Dankesrede auf der Staatstheater-Bühne. Foto: © De-Da-Productions

Hermann Bäumer bei seiner Dankesrede auf der Staatstheater-Bühne. Foto: © De-Da-Productions

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Chefdirigent mit langem Atem – GMD Hermann Bäumers Abschied nach prägenden 14 Jahren in Mainz – Versuch einer Bilanz

Vorspann / Teaser

Dass Hermann Bäumer seinen Abschied mit Leoš Janáčeks Oper „Das schlaue Füchslein“ gefeiert hat, wirkt fast wie ein Signal. Nach 14 prägenden Jahren als Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz und GMD am Staatstheater Mainz wechselt der inzwischen 60-Jährige noch einmal für drei Jahre als Musikdirektor an die Staatsoper Prag, wo er zuvor schon häufig gastierte und wo er gerade die Erstaufführung von Aribert Reimanns Oper „Lear“ herausgebracht hat. Beim Abschiedsempfang nach der vorletzten Opernvorstellung verlieh ihm Kulturministerin Katharina Binz die Peter-Cornelius-Plakette des Landes Rheinland-Pfalz. 

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Staatstheater-Intendant Markus Müller, der mit dem scheidenden GMD 11 Jahre zusammengearbeitet hat, sprach bei der Verabschiedung von der besten Begegnung, die er bisher mit einem Dirigenten gehabt habe. Er rühmte Bäumers Humor, seine Akribie und seine Lust am Entdecken. Er habe es geschafft, die Eintrittsschwelle ins Theater zu senken und dabei gleichzeitig die Maßstäbe hochzuhalten. Beispiele nannte Kulturministerin Katharina Binz. 

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Kulturministerin Katharina Binz verleiht die Peter-Cornelius-Plakette. Foto: © De-Da-Productions

Kulturministerin Katharina Binz verleiht die Peter-Cornelius-Plakette. Foto: © De-Da-Productions

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Sie hob Bäumers Einsatz für die zeitgenössische Musik hervor – an erster Stelle das Konzertformat „Auf Wiederhören“, in dem das Philharmonische Staatsorchester drei aktuelle sinfonische Werke vorstellte und darüber zum Gespräch einlud, um das Publikum am Ende entscheiden zu lassen, welchem der drei es in einem der kommenden Sinfoniekonzerte wieder begegnen wolle. Oder das Mainzer KomponistInnen-Porträt mit drei verschiedenen Konzerten an einem Wochenende, eines davon mit Einführung, eines mit Moderation, eines mit Expertengespräch – mit der Besonderheit, dass die porträtierte Person dabei stets als Interpret oder Interpretin mitwirkt. Sie sprach von Bäumers Interesse an der Kinder- und Jugendarbeit: Von den 2014 begründeten Orchester-Patenschaften für 1100 neugeborene Mainzer Kinder, von der Öffnung der Orchesterproben für Kinder- und Jugendgruppen, von Bäumers enger Verbindung zum Bundesjugendorchester und zum Landesjugendorchester Rheinland-Pfalz. Und sie sprach von der wertschätzenden und fordernden Atmosphäre in den „Proben, die ich erleben konnte.“ (Hier sei die kühne Frage erlaubt, wie viel Entscheidungsträger sich sonst noch als Zuhörer in eine Orchesterprobe setzen – nicht nur in eine öffentlich beachtete Aufführung, und ob das nicht überhaupt eine ausgezeichnete Achtsamkeitsübung für politisch tätige Personen wäre.) 

Als Bielefelder in Mainz

Dass Bäumer, der sich als gebürtiger Bielefelder augenzwinkernd gerne zum knochentrockenen Ostwestfalen stilisiert, sich vorbildlich auf die Mainzer Wesensart und sogar die Fastnacht eingelassen habe, ohne diesen Hinweis kommt kein Rückblick auf die vergangenen 14 Jahre aus. Tatsächlich fand der GMD 2011 die von seiner Vorgängerin Catherine Rückwardt etablierte „Symphonie Fastnachtique“ vor, ein Konzertformat, das atmosphärisch der Londoner „Last Night of the Proms“ nahekommt, aber deren Steigerungsdramaturgie noch übertrifft und inzwischen in der Regel drei Abende hintereinander ausverkauft ist. Während im ersten Teil auf der Bühne nur der Moderator, der Mainzer Kabarettist Lars Reichow, kostümiert auftritt, erscheint nach der Pause das gesamte Staatsorchester mit seinem Dirigenten in Verkleidung, bis am Ende die Versammlung im orchesterbegleiteten Absingen lokalpatriotisch gefärbter Fastnachtsgesänge durch das Publikum endet. Mit immer ausgefalleneren Kostümen, bei denen ihm die Maskenabteilung des Staatstheaters zur Seite stand, eroberte sich der GMD die Herzen der Mainzer. Bäumers hintersinnigste Verkleidung war eine selbstironische Anspielung auf seinen eigenen Namen: 2024 erschien der GMD versteckt in einem knorrigen Baumstamm und streckte die Arme zum Dirigieren aus den Astlöchern. 

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Symphonie Fastnachtique 2024 mit Hermann Bäumer als Baum. Foto: Staatstheater Mainz

Symphonie Fastnachtique 2024 mit Hermann Bäumer als Baum. Foto: Staatstheater Mainz

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Nicht von ungefähr also ehrte die Mainzer Dramaturgie ihn beim Festakt nach dem „Schlauen Füchslein“ mit einer launigen Ansprache der Schauspielerin Stephanie Kämmer im Fuchskostüm, die ihm im Namen der Waldtiere bescheinigte, er habe eine Menge Spuren hinterlassen – und nebenbei irritiert fragte: „Was wollen Sie in Prag, wenn Sie kein Bier mögen?“ Bedenkenswert! Dass Bäumer 2018 Paul Hindemiths „Mainzer Umzug“ von 1962 (auf einen Text von Carl Zuckmayer) dem Vergessen entriss, wäre ohne Verständnis für das weinselige Mainz kaum denkbar gewesen.

Ernsthaftes Hinschauen und Hinhören

Vielleicht getreu dem Otto Julius Bierbaum zugeschriebenen Satz „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, ist auch in diesen Fällen der Witz die Kehrseite der hohen Ernsthaftigkeit, mit der Bäumer und die Mainzer Opern- und Konzertdramaturgie in all den Jahren ihre Arbeit betrieben haben. Sehr bewusst hat man auch bei der letzten Opernpremiere hingehört und -hingeschaut und auf eine Produktion geachtet, die der Bildergeschichten-Ästhetik von Janàčeks Vorlage nahekommt: Regisseur Erik Raskopf und Bühnenbildner Christoph Schubiger sorgen für schnelle und effiziente Szenenwechsel, Hermann Bäumer am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters arbeitet sorgsam die Kleinteiligkeit der delikaten Partitur heraus, ohne den Spannungsbogen zu verlieren, und die Dramaturgie verzichtet bei den Übertiteln auf die glättende deutsche Übertragung von Max Brod, sondern nimmt die schlagfertige, manchmal etwas ruppige Diktion des tschechischen Originals auf. 

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„Das schlaue Füchslein“ mit Alexandra Samouilidou (Füchsin), Karina Repova (Fuchs) und dem Kinderchor der Mainzer Dommusik. Foto: Andreas Etter

„Das schlaue Füchslein“ mit Alexandra Samouilidou (Füchsin), Karina Repova (Fuchs) und dem Kinderchor der Mainzer Dommusik. Foto: Andreas Etter

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Vielen Werkeinführungen vor Publikum war anzumerken, dass Bäumers Blick nicht nur den kompositorischen Feinheiten gilt, sondern auch den Hintergründen der Entstehungsgeschichte und ihrer Bedeutsamkeit unter den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart. Oft richtete er den Blick auf Stücke außerhalb des etablierten deutsch-österreichischen Repertoires. Die (vermutliche) deutsche Erstaufführung von Heitor Villa-Lobos’ großer Regenwald-Kantate „Floresta do Amazonas“ aus dem Jahr 1958 in der zu Ende gehenden Saison war in diesem Sinne nicht nur eine musikalische Entdeckung, sondern auch ein vernehmlicher Appell. Sogar Mozarts „Idomeneo“ gewann kurz zuvor unter Bäumers stringentem Dirigat und in Alexander Nerlichs intelligenter Regie erstaunliche politische Aktualität.

Entdeckungen im Opernspielplan 

Zahlreiche Neu- und Wiederentdeckungen prägten in den vergangenen 14 Jahren auch den Musiktheater-Spielplan. Dies brachte dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz nicht nur 2018/19 den Preis für das beste Saisonprogramm ein, sondern auch die wiederholte Anerkennung auswärtiger Gastdirigenten für die schnelle Einstudierung von Raritäten – komplexe Partituren der Neuen Musik eingeschlossen. Prominente Beispiele für letztere waren auf der Opernbühne Pascal Dusapins „Perelà, uomo di fumo“ (2014/15), Georges Aperghis’ „Avis de Tempète“ (2018/19), Wolfgang Rihms „Die Eroberung von Mexico“ (2022/23) oder Kaija Saariahos „Èmilie“ (2023/24). Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ kam im März 2020 noch bis zur (im Radio übertragenen) Generalprobe, fiel dann dem Corona-Lockdown zum Opfer und gelangte erst im März 2022 zur Bühnenpremiere. Bäumer überbrückte die Zeit mit Richard Ayres „The Garden“ (2020/21) und Haukur Tómassons „Gudruns Lied“ (2021/22), beides Werke in corona-konformer kleiner Besetzung, drehte zusammen mit dem Regisseur Jan-Christoph Gockel zum 250. Geburtstag des Komponisten und als Zeitdokument der Pandemie den originellen Film „Beethoven – ein Geisterspiel“, und recherchierte gründlich die musikalischen Optionen für neuerlich eingeschränkte Bedingungen und für erhoffte bessere Zeiten. Spannende Mainzer Wiederentdeckungen auf der Opernbühne waren auch Rued Langaards „Antikrist“ (Saison 2017/18), den Bäumer danach an der Deutschen Oper Berlin dirigierte, Peter Cornelius’ hinterlassene „Gunlöd“ (2023/24) oder „L’Aiglon“, ein Gemeinschaftswerk von Arthur Honegger und Jacques Ibert (2024/25).

Beharrlich und Entgegenkommend

Um dem bereits Gesagten noch einen persönlichen Eindruck hinzuzufügen: Bäumers Aufführungen waren nie fesselnd durch das, was andere Dirigenten elegant mit ihren Armen oder ihrem ganzen Körper zu formen verstehen, sondern durch sein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Werk und dem Publikum, durch die Genauigkeit der Einstudierung, durch sein Gespür für den Spannungsverlauf, durch den langen Atem, mit dem er fast immer die Dramaturgie eines ganzen Abends zu gestalten wusste, und durch die subtilen Bezüge in der Folge seiner Programme. Ihm machte es augenscheinlich nichts aus, um 19 Uhr vor interessiertem Publikum eine Konzert-Einführung zu geben, dann ein ganzes Sinfoniekonzert zu dirigieren und sich anschließend beim Nachgespräch (im Glashaus auf dem Dach des Großen Hauses oder in der Kakadu-Bar nebenan) neugierig den Fragen des Publikums zu stellen – unterbrochen nur durch maximal drei kurze Zigarettenpausen vorm Seiteneingang des Großen Hauses.

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Hermann Bäumer bei seiner Dankesrede auf der Staatstheater-Bühne. Foto: © De-Da-Productions

Hermann Bäumer bei seiner Dankesrede auf der Staatstheater-Bühne. Foto: © De-Da-Productions

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Mit dem Abschlusskonzert im voll besetzten Mainzer Dom, in dem Olivier Messiaens monumentales letztes Orchesterwerk „Éclairs sur l’Au-delà“ erklang, spannte der GMD sogar einen programmatischen Bogen zum Beginn seiner ersten Mainzer Saison, die er mit Messiaens „Turangalila“-Sinfonie eröffnet hatte, und bedankte sich damit zugleich bei den Akteuren der Mainzer Dommusik für eine jahrelange fruchtbare Zusammenarbeit. Eine beachtliche Ausdauer bewies er auch beim Abschiedsempfang im Theater, bei der er eine Unmenge von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses mit einem persönlichen Dankeswort bedachte. Das Philharmonische Staatsorchester hat ihn parallel öffentlich mit einem kurzen Youtube-Video und den folgenden Worten verabschiedet: „Wir wollen DANKE sagen – für seine Arbeit, seine Energie, seine Vision, seinen Witz, seinen Mut, seine Freundlichkeit, sein Verständnis, seine Beharrlichkeit, seine Ausgeglichenheit, ... und für die unvergesslichen Momente, die wir mit ihm auf und hinter der Bühne erleben durften.“ Passend zu Markus Müller, der seine Mainzer Intendanz 2014 mit den programmatischen Worten ankündigte „Die Zeit der Theaterfürsten ist langsam vorbei“, hat Bäumer sich nie zum abgehobenen Pultgenie stilisieren lassen.

Der Nachfolger

Sein Nachfolger Gabriel Venzago, zuvor Chefdirigent der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz, darf seiner ersten Mainzer Spielzeit mit einem ähnlich abwechslungsreichen Programm zuversichtlich entgegensehen. Er stößt auf hohe Aufnahmebereitschaft am Haus und vonseiten des Publikums. Damit wird es ihm nicht schwer fallen, weiter neue Akzente zu setzen. Und wenn Venzago in seinem ansonsten optimistischen Vorwort zur neuen Konzertbroschüre auch bekennt, ihm bereite die Frage der Kostümierung bei der nächsten „Symphonie Fastnachtique“ noch gewaltiges Kopfzerbrechen – man wird ihn hier nicht im Stich lassen.

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