Im zweiten Akt sinkt hernieder die Nacht der Liebe. Hell und Dunkel verschwimmen, eins und eins macht eins, Tristan wird Isolde und umgekehrt, Recht zu Unrecht und umgekehrt: egalisierender Weltgewinn auf der einen Seite gerät zum entdifferenzierenden Weltverlust auf der anderen. Großes euphorisierendes Musiktheater von im höchsten Sinne fragwürdiger freier Fantasie.

Lahav Shani und die Münchner Philharmoniker als unvorhergesehene, aber willkommene Gäste beim Musikfest Berlin (Seite 8).
Mehr Schubert wagen
Denn diese Nacht der Liebe als Genitivsubjekt gebiert zugleich eine Nacht der Liebe als Genitivobjekt, die Verfinsterung aller anderer Menschen alltägliche Gewogenheit durch die alleineinzige alles erdrückende Allumarmung. In dieser totalitären Innerlichkeit „hängt die Nacht der Welt einem entgegen“, von der Hegel 1805 in Jena spricht: „diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält… reines Selbst… Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt, in eine Nacht hinein, die furchtbar wird.“ Eine dank verrückter Grenzen und umgewerteter Werte leere Finsternis, jedoch voll Visionen, namenloser Schrecken, flüchtiger Gestalten, und was davon nicht vereinnahmt werden kann, das muss vermutlich erschlagen werden. So dämmert heute Hegels Nacht der Kulturwelt, und es tobt, über jegliche unbarmherzigen Kriegsgräuel hinaus, ein Diskurs- und Deutungskampf aller gegen alles und jeden, das sich nicht vereinnahmen kann, die sich nicht bekennen. Als ob man es nicht hätte kommen sehen.
Inmitten dieses Kriegsgeschreis, in dem jede Stimme des Protests und des Mitgefühls für ein jedes Opfer untergeht, fand nun eine Konzerttournee statt. Eine, wie es sie Dutzende gibt, mit einem wenig aufsehenerregenden Programm, so wie es sie Dutzende gibt, mit einem deutschen Orchester unter einem israelisch-jüdischen Dirigenten. Die gibt es auch. Wie bekannt, wurden die Münchner Philharmoniker und Lahav Shani in Gent ausgeladen, weil sie Bekenntnisse nicht abgeliefert hätten, und sie traten in Deutschland beim geplanten Gastspiel am 13. September in Essen auf sowie kurzfristig am 15. September im Konzerthaus am Gendarmenmarkt auf besondere Einladung der Berliner Festspiele, der Philharmoniker, des Musikfestes und des Konzerthauses. Ein Akt der Solidarität mit den boykottierten Künstlern, eine „schöne Geste“, wie Meron Mendel es schlichter beschrieb. Als ob man es nicht hätte kommen sehen, geriet diese Geste trotz des guten Willens in die nächtlichen Schlagschatten einer entdifferenzierten Kulturwelt, nicht nur, weil das Konzert am 16. September in Paris Demonstrationen begleiteten, vielmehr weil die Bewegung, Schauplätze zu Kampfplätzen zu erklären, nicht aufhaltbar scheint.
Wenn Politik und Musik zusammenkommen, kann es, bis auf lichte Ausnahmen wie das West-Eastern-Divan-Orchestra oder das Bundesjugendorchester, böse werden: vor 90 Jahren in Berlin durchaus, ebenso wie vor neun in Palmyra. Musik als Kunst jedoch ist und bleibt, so oder so, um ihrer selbst willen politisch, weswegen es auch die Freiheit der Kunst gibt. Diese gilt etwa auch für Richard Wagner, der die Nachtseiten menschlicher Natur und Kultur so eindrucksvoll wie erdrückend ins Werk setzte. Daran und an dessen Fragwürdigkeit arbeiteten sich Zubin Mehta oder der beim Berliner Konzert anwesende Daniel Barenboim in Israel ebenso ab, wie es all die deutschen Opern und Orchester landauf, landab tun. Im Dauerfeuer von Meinungsmaschinen und -menschen mit all den Petitionen, Posts und Posen, die allesamt in Nichts die Nacht erhellen, sind aber genau die Vermögen notwendig, die zu verschwinden drohen in dieser Nacht der Liebe als Genitivobjekt: die Differenzierung, das Feingefühl. Diese wiederum gestatten es in Frage zu stellen, dass Wagner und nicht Schubert das Berliner Programm beschloss, oder auch, dass Staatsminister Wolfgang Weimer in seiner Begrüßung zuvor die Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze am 15. September vor 90 Jahren ansprach, Wagners da vor genau 175 Jahren und zwei Wochen erschienene Hetzschrift „Das Judentum in der Musik“ jedoch nicht. Als ob man es damals nicht hätte kommen sehen. Dass sich da kein Kuratoren-Sinn regte, ja wenigstens ein Referenten-Nerv zuckte, gehört auch zu dieser Nacht der Welt.
Warum allerdings Schuberts „Unvollendete“, die in Essen und sonstwo neben Beethoven und Wagner selbstverständlich gespielt wurde, sich weggekürzt fand ausgerechnet zugunsten von Tristan-Vorspiel und Isoldes „Liebestod“ (!), ist angesichts der besonderen Umstände des Berliner Konzerts völlig irrelevant, weil die Tatsache allein genug verstört. Das ist dem Dirigenten nicht vorzuwerfen, wie auch alles andere erst recht nicht, dem er ausgesetzt war. Einer Kultur in ihrer Selbstvergessenheit oder -gewissheit schon eher. Gerade diese hintertreibt das große Sinfoniefragment, ein fragiles Wiegenlied in Chiaroscuro, als ob Schubert, der zutiefst Betrübte und extrem Kurzsichtige, nur zaghaft ins Licht zu blinzeln sich traute. Dergestalt hätte das Werk fragend und vorsichtig ein Programm vollendet, das allein der großen künstlerischen Tat Lahav Shanis zu verdanken ist. Beethovens Violinkonzert, wohl dessen absichtslosestes Werk, ließ er warm, beinahe altmodisch angehen, klar gezeichnet sowie mit langem Atem und viel Zeit. Musik, die für sich stand, liebevoll, tröstlich. Weltabgewandt? Von wegen. Alfred Schnittkes paukenbegleitete Solokadenzen, die Lisa Batiashvili virtuos hineinstrich, schnitten wie Splitter und Schrapnelle von dieser Welt. Als sie und Shani dann zur Zugabe ans Klavier gingen, schloss sich das ganze musikalisch hochintelligent wie würdevoll schlicht mit „Liebesleid“ von Fritz Kreisler, dessen Kadenzen zu Beethovens Konzert lange Standard sind, der als Jude aus Berlin vertrieben wurde und der als Wiener Geiger in der Tradition etwa eines Franz Clement stand, des Auftraggebers von Beethovens Violinkonzert. Das war das Kultureuropa, welches, unerkannt, der Kulturminister Weimer ebenfalls beschwor. Aber es war das Europa des Nachtalben der deutschen Kultur, aus dem Fritz Kreisler sich retten konnte und so viele nicht.
„Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten…“ zur Zeit, nicht nur, aber beinahe überall. Schubert indes, der sich aus dem medial aufgepeitschten Dorf Berlin gefegt fand, unbeachtet und ungehört wie der eigene arme, alte Leiermann der „Winterreise“, lässt die Hoffnung, auch die leiseste Stimme möge gehört werden, trotz alledem nicht fahren. Das machte womöglich empfänglicher, ließe differenzieren und aufhorchen. Vor allem in dieser Nacht, da auch dem grundlegenden Konzept „Stimme“ gewaltige Ent- und Umwertungen drohen.
- Share by mail
Share on