
María de Buenos Aires | Santiago Bürgi (Sänger), Candela Gotelli (María). Foto: Lutz Edelhoff
Tango in Thüringen: Viel Applaus für „María de Buenos Aires“ am Theater Erfurt
Auf der sich weit und wirkungsvoll vor das Portal wölbenden Vorbühne des Theaters Erfurt findet sich alles, was auch der Friedrichstadt-Palast mit Argentinien assoziiert. Die „mala vida“, das Milieu der kleinen Leute und Kleinkriminellen, wirkt wie frisch gewaschen. Sanfter Nebel treibt dekorative Trübnis auf die Spielfläche. Stefano Cascioli betont am Pult dazu die warme Sinnlichkeit der Musik. Meist legt das im erzgebirgischen Carlsfeld bis 1964 perfektionierte Bandoneon elegische Spuren. Die Instrumentalsoli und Streicher haben Rundung. Der für ornamentale Arrangements geforderte und von Markus Baisch formidabel präparierte Chor trägt schlichte Stoffe und Farben. Deutlich separiert sind die zeitgenössischen Tanz-Elemente in der Choreographie von Elli Treptow und der Tango Argentino in der Verantwortung von Silvina Machado. Durch Skelettmasken wird der Bericht vom Leben, Sterben und Wiederkehr der für alle Unterschichtfrauen des argentinischen Hauptstadt-Molochs stehende María zum lateinamerikanischen Memento Mori. Am Ende stehen mehrere Mariá-Inkarnationen aller Lebensalter in der Mitte und machen sich davon. Mariás wird es immer geben – in Argentinien und dem Rest der Welt.
Santiago Bürgi singt die Soli des Polyador, eines Straßensängers, mit idiomatischer Weichheit und viriler Leichtigkeit. Ole Xylander integriert sich mit diszipliniertem Ensemblegeist in der Sprechrolle des Duende (Kobolds), welche der Librettist Ferrer in eigenen Auftritten immer wieder umgestaltete. Unter Florian Hahns keine dunklen Geheimnisse lassendem Licht modelliert der Bühnen- und Kostümgestalter Hank Irwin Kittel ein Alltagsleben mit weißen Hemden und roten bis grauen Kleidern als Zeichen für die von Mariá durchwandelten Lebensphasen. Einer der Antriebsfaktoren für die Erfurter Neuproduktion war mit Sicherheit das argentinische Ensemblemitglied Candela Gotelli. Sie gab mit der Extrempartie der Palmyra in Rossinis „Le siège de Corinth“ einen fulminanten Einstand und machte Puccinis Lauretta in „Gianni Schicchi“ zur durchtriebenen Draufgängerin. In den tiefen Lagen bleibt sie trotz Mikroport fast unhörbar und entzieht sich so zum Glück dem riskanten Stimmabbau. Als junge Titelfigur ist Gotelli authentisch, nie exaltiert und zutiefst ehrlich. Wenn sie als Schatten aus dem Totenreich zurückkommt, übernehmen ihre tanzenden Parallelfiguren (Dagmar Hunzinger und Elli Treptow) die szenische Führung. Zugleich macht gerade Gotelli mit ihrer geradlinigen Empathie deutlich, wie viele Analogien zwischen Piazzollas „María de Buenos Aires“ und Webbers „Evita“ bestehen, wobei letztere aus der brodelnden Unterschicht und dem Bauch von Buenos Aires mit allen Mitteln nach oben will. In beiden Stücken schälen dich die Bühnenfiguren aus dem Erinnern und Trauern, werden zu Symbolen und Idolen. Zu solchen Gedanken fordert die Erfurter Neuproduktion heraus.
Der Zuspruch auf die in der Studio.Box angekündigten „Tango-Tanzabende mit Schnupperkurs“ dürfte groß sein. Nur in der finalen Szene Nr. 17, in welcher Ferrer unter dem Titel „Tangus Dei“ den Tag des Herrn mit dem Ausleben heißen Begehrens assoziiert, zeigt die Regie von Stephanie Kuhlmann sich vor Schmerz krümmende Frauen. Die Kehrseite des sinnlichen Lebens sind illegitime Schwangerschaftsunterbrechungen. Sonst agieren die Geschlechter wie im Tango fast immer auf Augenhöhe, bewahren auch in der Erniedrigung persönlichen Stolz und Energie.
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