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Sofia Gubaidulina 2017 – Geehrt mit dem Musikautorinnenpreis der GEMA für ihr Lebenswerk. Foto: Martin Hufner

Sofia Gubaidulina 2017 – Geehrt mit dem Musikautorinnenpreis der GEMA für ihr Lebenswerk. Foto: Martin Hufner

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Musik als Klang unseres Universums – Sofia Gubaidulina im Gespräch mit Burkhard Schäfer

Vorspann / Teaser

Sofia Gubaidulina, die am 13. März 2025 verstarb, darf man getrost als die berühmteste und größte Komponistin der Gegenwart bezeichnen. Bekannt wurde sie in Deutschland und Europa in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als sie auf Vermittlung von Gidon Kremer die ehemalige Sowjetunion verlassen und beispielsweise ins österreichische Lockenhaus zum Kammermusik-Festival reisen durfte. Mit ihrem Gidon Kremer zugeeigneten „Offertorium“ von 1981 hat sie eines der schönsten Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Ihre wahre Passion ist aber die Kammermusik, die für sie „die höchste Stelle in der Hierarchie“ einnimmt, wie sie im Gespräch bekennt. Wahre Musik spiegelt für Sofia Gubaidulina die Gesetze des Universums wider. Vielleicht liegt hier der Grund dafür verborgen, dass Ihre Musik auf der ganzen Welt gehört und geliebt wird. Burkhard Schäfer traf die Komponistin in Luzern 2011 zum Interview … 

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Was bedeutet für Sie als Komponistin Kammermusik?

Kammermusik nimmt in der musikalischen Hierarchie für mich die höchste Stelle ein. Deshalb sind meine eigenen Ansprüche viel höher, wenn ich Kammermusik schreibe. Sie bildet ein Umfeld, in dem ich mir erlauben kann, noch ernstere Aufgaben auszuarbeiten. Die Strukturregeln sind sowohl im inhaltlichen als auch im klanglichen Sinne viel komplizierter und die Aufgabe ist eine viel tiefere. Natürlich schreibe ich auch gern für großes Orchester.

Können Sie genauer erklären, was die Kammermusik im Kompositionsprozess so speziell macht?

Beim Schreiben von Ensemble-Musik muss ich mich den Begrenzungen stellen, ich muss bescheidener sein in der Wahl der Ausdrucksmittel. Es macht einen Unterschied, ob ich zu einem oder zwei Menschen oder zu einem ganzen Auditorium spreche. Je mehr Menschen ich anspreche, desto einfacher muss ich mich ausdrücken. Am meisten produktiv und informativ ist das Gespräch mit einem einzigen Menschen für mich. Deshalb halte ich die Kammermusik-Literatur für die wichtigste Ebene in der Musik.

Und dann speziell das Streichquartett? Haben Sie da besondere Vorlieben in der Musik?

Ich liebe auch unkonventionelle Besetzungen, aber das Streichquartett ist schon eine sehr fantastische Formation.

Sie haben ja bereits vier hervorragende Streichquartette geschrieben. Dürfen wir uns auf weitere Quartette von Ihnen freuen?

Nein, leider, ich bin achtzig Jahre alt und muss mich in der Wahl der noch zu schreibenden Stücke einschränken. Und ich habe einige Aufträge, die ich noch bewältigen muss, auch einige Kammerwerke, aber keine Quartette. Und mehr schaffe ich nicht, dafür fehlt mir ganz einfach die Kraft.

Spüren Sie, dass Ihnen die Kräfte schwinden?

Ja, ich spüre, dass ich in meinem Alter nicht mehr so aktiv sein kann wie in jungen Jahren. Und besonders voriges Jahr hatte ich eine Krankheit: Lungenentzündung. Meine Psyche litt deshalb unter einer sehr schlechten Stimmung und ich hatte das Gefühl, keine Ideen mehr zu haben.

Von was lassen Sie sich leiten beim Komponieren? Wie kann man solche ergreifenden Melodien finden wie beispielsweise die, die in Ihrem „Offertorium“ zu hören sind?

Das ist schwierig zu beantworten. Manchmal fällt mir eine melodische Phrase, ein Akkord beim Spazierengehen ein. Spaziergänge geben mir eine unglaubliche Inspiration. Ich erinnere mich an einen Schlüsselmoment in meinem Leben. Ich muss dazu sagen, dass ich mir als Wohnort ein Dorf ausgesucht habe, in dem es nur zwei Straßen gibt und dann kommt ein Feld. Dort kann man sehr gute Spaziergänge machen. Ich ging den Feldweg hinab und schaute in den Himmel und plötzlich begann die Sonne in allen Farben zu tanzen. Die Sonne hatte einen goldenen Rand, und von diesem Rand gingen verschiedenartige Pfeile aus, die zugleich anfingen zu klingen – es war fantastisch. Ich erlebte eine klingende, tanzende Sonne und ein Farbenmeer. Ich weiß nicht: war es rein meine Fantasie, das Unterbewusste, eine Vision? Ich werde es auf jeden Fall in meinem Leben nie vergessen.

Das ist ein großartiges Erlebnis, das Sie da schildern. Wenn Sie dann die Keimzelle für ein Werk gefunden haben – wie geht es anschließend weiter?

Ich baue diese Idee dann weiter aus, aber drinnen am Schreibtisch, nicht mehr draußen. Die Spaziergänge sind, wie mir scheint, ein Urquell und somit für meine Ideenfindung die Hauptsache. Dabei erlebe ich die beglückenden Momente der Inspiration und Begeisterung, die jeder Künstler benötigt, um ein neues Werk zu erschaffen. Sie geben mir die Kraft, zuhause am Schreibtisch eine Komposition, ein Werk daraus zu formen, Phrase für Phrase und Note für Note.

Gibt es während des Kompositionsprozesses Prinzipien, von denen Sie sich leiten lassen, irgendwelche formalen Aspekte und Methoden?

Ja, solche Prinzipien habe ich. Ich experimentiere mit Zahlen. Man braucht zum Komponieren unbedingt ein System von Begrenzungen. Der Strom der Begeisterung muss eingedämmt werden, um echte Kunst hervorbringen zu können. Das Atonal- und Zwölftonsystem passt aber nicht zu mir. Ich arbeite mit der Fibonacci-Reihe, ähnlich wie Johann Sebastian Bach, der auch mit Zahlen experimentiert hat. Die Fibonacci-Reihe betrachte ich sozusagen als Konsonant. Fibonacci war ein Mathematiker im 12. Jahrhundert. Je weiter die Reihe sich vom Konsonanten entfernt, desto dissonanter wird sie.

Was ist die Kernidee dieser Methode?

Diese Konstellation enthält ebenfalls die Idee, dass zwei verschiedene Komponenten in einem Verhältnis zueinander stehen, bei dem der Schnitt die Vollkommenheit ergibt. Innerhalb eines solchen Regelsystems kann ich bei meinem klanglichen Material die nötigen Freiheiten zum komponieren beibehalten: in den Phrasen, Melodien oder Akkorden. Aber die Formsituation möchte ich zuerst nach den genannten Systemen ordnen, damit das Gesetz überhaupt wirkt. Ich probiere das immer verschiedenartig aus. Fast alle Werke beginne ich mit dieser Technik. Aber diese Technik ist manchmal sogar zu schwierig für mich. Teilweise gelingt es mir sehr gut, damit zu arbeiten, aber es kann auch vorkommen, dass es zu kompliziert wird und ich absolut daran scheitere. Ich kann diese Technik deshalb keinem anderen Komponisten raten, da sie ein Risiko darstellt.

Musik ist die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich nicht dessen bewusst ist, dass sie rechnet“, lautet ein berühmter Satz des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz. Beziehen Sie sich auf solche Spekulationen?

Ja genau. Ich kenne diese Theorie Leibniz’ und beziehe solche philosophischen Grundideen natürlich in meinen Kompositionsvorgang mit ein.

Welche Erklärung haben Sie dafür, dass Ihre Musik – bei all den mathematischen Komponenten – unmittelbar die Emotionen und die Seele anspricht?

Ich habe sehr viel über die Frage nachgedacht, warum die Musik von allen Künsten als die ‚geistigste‘ bezeichnet wird. Lange Zeit war für mich jede denkbare Erklärung nicht zufriedenstellend. Erst jetzt habe verstanden, warum Musik so anders ist: weil ihr Klang auf ähnlichen Gesetzen aufgebaut ist wie der Klang unseres Universums. Die pulsierende Welt als Mittelpunkt der Schöpfung bringt ständig Klänge hervor. Solche, die wir bewusst hören, und solche, die wir gar nicht mit unseren Ohren wahrnehmen können. Wahre Kunst ist es deshalb, Musik zu schaffen, die auf Ähnlichkeiten mit der Struktur des Universums beruht, auf den wahrhaftigen Gesetzmäßigkeiten, auf Struktur, auf dem göttlichen Sinn. Zwei Töne sind nicht nur einfach zwei Töne, sondern sie bilden sich ergänzende, kombinierende Töne. Summations-Ton und Differenz-Ton. Der Differenz-Ton pulsiert und erscheint uns nicht als Tonhöhe, sondern als Rhythmus.

Wie bringen Sie diese Entdeckung in Ihre Werke ein?

Ich baue es so in neue Kompositionen ein, dass kadenzierende Momente entstehen, um ansonsten unhörbare Töne in dieser Welt hörbar zu machen. Es ist für mich einfach fantastisch und immer wieder von Neuem eine interessante Herausforderung, dies zu schaffen.

Was war Ihr erstes und intensivstes Musikerlebnis? Gab es für Sie ein Erweckungserlebnis?

Mein Zugang zur Musik erfolgte andersherum als bei vielen anderen. Zuerst entstand in mir der Wunsch zu komponieren, und erst danach habe ich ein Bewusstsein dafür gewonnen, dass es große Musik gibt.

Wie kommt es zu dieser ungewöhnlichen Reihenfolge?

Wie bei allen wichtigen Sachen wurde ich auch hiermit in der Kindheit geprägt. Mit fünf Jahren begann ich Klavier zu spielen. Im Gegensatz zu anderen Komponistenkollegen kam ich aber nicht aus einer musikalischen Familie. Mein Vater war Ingenieur und meine Mutter Pädagogin. Wir lebten damals in ziemlich ärmlichen Verhältnissen. Doch wir hatten einen Flügel, und diese Tatsache, dass es ein Flügel war und kein einfaches Klavier, entschied mein ganzes Leben. Den Flügel konnten wir nämlich öffnen und dabei die Saiten berühren. In dem Instrument gibt es fantastische akustische, man kann sogar sagen: theatralische Situationen. Meine Schwester trat die Pedale, ich strich über die Saiten und spürte, dass etwas unglaublich Artistisches passierte. Diese intensive Erfahrung hat mich bereits geprägt, bevor ich Kontakt mit ‚wirklicher’ Musik hatte.

Wie ging es dann weiter?

Beim Klavierstudium hatte ich eine sehr gute Lehrerin. Diese besaß fünf Körbe voll mit Noten – für die erste, zweite, dritte Klasse und so weiter. Ich habe mir diese Noten ganz genau angeschaut und sie als sehr langweilige Stücke empfunden. Es war wirklich sehr armselig. Ich war damals ziemlich naiv und wusste noch nicht, dass anstatt all dieser Kinderlieder auch eine ganz andere klangliche, große Musikwelt existiert. Und so brachte diese Situation den Ausgangspunkt für mein weiteres Leben als Komponistin mit sich. Ich verspürte die dringende innere Notwendigkeit, selbst etwas zu schreiben, um weitere Noten zum Musizieren zur Verfügung zu haben. Mit sieben Jahren habe ich dann Mozart und Haydn kennengelernt und gemerkt, dass bereits schöne Musik existiert. Aber da war ich mit dem Komponieren schon infiziert. Ich habe aus reiner innerer Notwendigkeit mit dem Schreiben begonnen. Aber nicht, weil ich klar reflektierend als Komponistin ein Werk erschaffen wollte.

Wie wichtig ist es für Sie, in der Kammermusik die einzelnen Instrumente berücksichtigen zu müssen – die Klangfarben, die Seele der Instrumente?

Nicht nur die Klangfarben, auch die Struktur des Instrumentes gilt mir als etwas sehr Faszinierendes für das Kammermusikwerk. Das Instrument Bayan zum Beispiel hat ganz spezielle Besonderheiten, die sonst kein anderes Instrument besitzt. Früher war das Bayan ein Volksinstrument, aber seit dem 20. Jahrhundert tritt es nur noch mit dem Anspruch hoher musikalischer Kunst in Erscheinung. Bei meiner Komposition mit dem Titel „Fachwerk“ ist das Bayan beteiligt, und so galt es, seine Eigentümlichkeiten auch zu berücksichtigen.

Was fasziniert Sie an der Fachwerk-Bauweise, dass Sie sogar ein Werk danach benennen?

Über die Fachwerk-Assoziation kann ich die Strukturen meiner Komposition als ästhetische Tatsachen begreifen. Ein Fachwerk benötigt auch Balken und ein Dach, damit das Haus nicht in sich zusammenfällt. Deshalb sind Struktur und Schönheit für mich dasselbe. Ein Fachwerk-Haus zeigt diese Strukturen, sie verschwinden dort nicht unter dem Putz. Nur noch im Bayan existiert eine Ähnlichkeit mit diesem ausgeprägten Fachwerkstil mit diesen, ja, man kann sie ‚Strukturbalken’ nennen. Diese Charakteristika eines Instruments bestimmen die Komposition meiner Werke, auch meiner Kammermusikstücke, entscheidend mit.

Bei welchen Komponisten sehen Sie interessante Ansätze in der modernen Musik?

Ich glaube, am meisten schätze ich Olivier Messiaen. Er war frei von Konventionen und Zwängen. Ein Komponist muss ein selbständiger Mensch sein, der absolut nicht abhängig ist von anderen Meinungen. Höre ich seine Musik, dann spüre ich, dass er ein freier Mensch war.

Sie leben seit 1992 in Deutschland und kommen aus der Tatarischen Republik. Wie hat Sie das als Komponistin beeinflusst?

Diese kosmopolitischen Einflüsse der verschiedenen Kulturen waren und sind für mich eine große Bereicherung. Das kann sehr produktiv für einen Komponisten sein. Heutzutage sind wir glücklicherweise offen für jegliche Kulturen. Und die Offenheit zur ganzen Welt ist schöpferisch und voller Ideen. Ich interessiere mich sehr für verschiedene Kulturen, nicht nur die östlichen, auch zum Beispiel Australien. Von dort sind das Didgeridoo und verschiedene andere musikalische Traditionen höchst interessant. Auch das südliche Amerika, Peru, bietet eine unglaublich überbordende Kultur mit sehr sympathischen und begabten Menschen. Die Japanische Kultur ist dermaßen raffiniert – oder denken Sie an China! Der jetzige Zustand auf der Welt ist ein sehr großes Glück für uns Komponisten. Man kann die Menschen und die Musiker treffen und in den Traditionen liegen viele Wahrheiten verborgen.

Wie war dagegen Ihre Situation als Komponistin in der damaligen Sowjetunion?

Als ich jung war, habe ich in keiner günstigen Situation gelebt. Es herrschte immer eine gezwungene Art und Weise vor. Ästhetische Vorstellungen und Einstellungen waren festgelegt und reglementiert. Wir waren sehr oft auch über den Mangel an Information verzweifelt – gerade in den Vierziger und Fünfziger Jahren. Doch die Gäste aus aller Welt haben uns wenigstens geholfen und uns zum Beispiel Schallplatten geschenkt. Trotzdem ist solch eine Reglementierung für das schöpferische Bewusstsein fürchterlich und ich bin sehr dankbar, dass ich heutzutage unter anderen Voraussetzungen arbeiten und komponieren kann.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Gubaidulina, und alles Gute für die Zukunft.

  • Zuerst erschienen in ENSEMBLE-Magazin für Kammermusik, Ausgabe 6/2011.
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