Als sie sich vor dem herzhaft applaudierenden Publikum der Kölner Philharmonie verbeugt, nimmt die kroatische, in Wien lebende Komponistin Mirela Ivičević ihre kleine Tochter an die Hand. Früh übt sich, was eine Komponistinnentochter sein muss. Die Geste lässt das Private in das Ritualisierte ein und entschärft gleichzeitig den Ernst eines Neue-Musik-Konzertes. Man sieht das gern, doch die Ohren entscheiden sich für Altmeister Luciano Berio, der bei der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ den Jungen den Weg weist.
Foto: © Oliver Hitzegrad
Bechers Bilanz – November: … dass nichts bleibt, wie es war
Dortmund: SLOW Festival – Abschlusskonzert
Zwischen Teezeremonie und Streicher-Exzellenz
Zwei Stunden reglos im Konzertsaal sitzen, bei Rede- und Handyverbot, Augen und Ohren auf das Bühnengeschehen konzentriert – was soll das sein, wenn nicht eine Übung in Achtsamkeit und Fokussierung? Es braucht nicht viel, um Konzertbesucher zur Reise ins Innere zu bewegen. Aber da geht noch mehr. Deshalb präsentiert das Konzerthaus Dortmund, unter seinem Intendanten Raphael von Hoensbroech beständig mit der Entwicklung neuer Formate beschäftigt, das erste SLOW Festival, konzipiert von Kristina Erdmann aus dem Kommunikations-Team des Hauses. Zwischen Teezeremonien, Meditationen und einem „Slow Walk“ durch Dortmund hat das Konzerthaus sein Foyer verzaubert, Pierre-Laurent Aimard und Isabelle Faust eingeladen und eine ganze Musiknacht in der Petrikirche auf die Beine gestellt. Vor naheliegendem Spott (auch zum „Reis zählen“ wird geladen) schützt sich Dortmund durch höchsten Qualitätsanspruch.
Beim Finalkonzert am 2. November stehen die Streicher des O/Modernt Chamber Orchestra mit ihrem Leiter und Konzertmeister Hugo Ticciati auf der Bühne. Der chorische Streicherklang lockt seit jeher zur Versenkung – zumal bei so vorzüglicher Klangkultur wie der von O/Modernt. Man spielt im Stehen, bleibt in Bewegung, denn slow heißt nicht ereignisarm. So decken die Kompositionen von Žibuoklė Martinaitytė, Dobrinka Tabakova und Pēteris Vasks ein großes Spektrum an ebenso wandlungsfähigem wie geerdetem Streicherklang ab. Nach dem Konzert führen die Musikerinnen und Musiker das Publikum ins Foyer, wo ein Mandala aus feinem Sand, entstanden während der vergangenen 36 Festival-Stunden, rituell zerstört wird.
Köln: Marie Jacquot dirigiert das WDR Sinfonieorchester
„Bruckner-Nebel“? Einfach Tremolo
Gemessen am Konzertbesuch in der Philharmonie am 15. November freut sich Köln darauf, dass Marie Jacquot ab Sommer 2026 dem WDR Sinfonieorchester als Chefdirigentin vorsteht. Die in Wien und Weimar ausgebildete Französin war bereits in Würzburg und an der Deutschen Oper am Rhein beschäftigt und nimmt aktuell eine Chefposition am Royal Danish Theatre wahr. Als Etappenziel für Köln nimmt sie sich einen Bruckner-Zyklus vor – was an den Erfordernissen des Marktes vorbeizielt, wenn auch nicht an den Vorlieben des Publikums. Und da ein Königsweg von Anfang an erhobenen Hauptes beschritten sein will, startet sie mit der Siebten. J
acquot inspiriert das WDR Sinfonieorchester zu einem Relief mit deutlichen Konturen. Bei ihr regieren die Melodien, die Tempi sind zügig, Ritardandi auf ein Minimum reduziert. Jacquot behält die Kontrolle, lässt sich von Bruckners Mystik nicht mitreißen, die Streicher spielen Tremolo, keinen Nebel. Sie erdet den Gottsucher. Man möchte von einer musikantischen Interpretation sprechen, da braust schweres Blech auf und setzt dann doch auf Überwältigung. Hier die richtige Abstufung zu finden, wird für Dirigentin und Orchester zur Kernaufgabe werden.
Den Konzertabend leitet ein Orgelkonzert von Georg Friedrich Händel in knapper Streicherbesetzung ein. Jacquot sorgt für ein vollendet abgerundetes, aber kühles Klangbild, das den Kölnern einen gerade noch höflich zu nennenden Applaus abringt. Wie ungerecht. Der Pariser Organist Thomas Ospital macht das wett, nachdem er vom kleinen Händel-Positiv zur Soloeinlage auf der Klais-Orgel gewechselt hat. Als Zugabe improvisiert er sich durch die erlesensten Registermixturen, bis er sich am Scherzo aus Bruckners Siebter festbeißt. Die WDR-Musiker auf der Bühne freuen sich, auch die Dirigentin hat zugehört. Eine klug ersonnene erste Konzerthälfte, die die Ohren für Bruckner angemessen kalibriert. Auch zeitgenössische Musik könnte diesen Zweck erfüllen.
Hamburg: Helsinki Philharmonic Orchestra
Das Antlitz der Moderne
Gastspiele skandinavischer Orchester zeichnen sich durch ein Bekenntnis zum Heimatland und zur zeitgenössischen Musik aus. Zum Beispiel das Tourneeprogramm des Helsinki Philharmonic Orchestra unter seinem Chefdirigenten Jukka-Pekka Saraste am 22. November in der Elbphilharmonie Hamburg: Jean Sibelius’ Erste Symphonie, Strawinskys „Concerto in Re“ mit dem finnischen Geiger Pekka Kuusisto, als Zugabe etwas klischeehaft „Finlandia“ (da springen aber die Hamburger von den Sitzen) und als Opener „Songs of the Ice“ aus der Feder der 1985 in Lappland geborenen Komponistin Outi Tarkiainen. Deutschen und österreichischen Orchestern fehlt auf Tour oft der Wille, neue Musik in ihre Programme aufzunehmen, selbst Rundfunkorchestern. Das Argument, die Veranstalter wollten dies nicht, zeugt von mangelndem Verhandlungsgeschick. Wenn es sich nicht gar um eine Ausrede handelt.
Das Orchester aus Helsinki hat viele Symphonien Sibelius’ uraufgeführt und prunkt in Hamburg mit Spielfreude, Energie und Farbigkeit. Kuusisto interpretiert Strawinsky zwischen zeichenhafter Geradlinigkeit und kratzbürstigem Übermut; so entblößt der Neoklassizismus des Komponisten das Antlitz der Moderne. Tarkiainen wiederum bringt die geheimnisvolle Klangwelt des Eises zu Gehör – ein Mahnmal gegen den menschengemachten Klimawandel, der das Abschmelzen der Gletscher verantwortet. Dennoch sind die „Songs“ kein grünes Lehrstück, sondern eine handfeste Komposition zwischen zarter Celesta und scharfem Blech. Durch diese Musik weht ein Wind, der die Komponistin nicht nach Donaueschingen bläst, aber in die Herzen der Abonnenten.
Köln: Helmut Lachenmann zum Neunzigsten
Leben in die Noten bringen
Da brandet der Applaus der wenigen auf, die am 19. November in die Kölner Philharmonie gekommen sind, um den 90. Geburtstag von Helmut Lachenmann vorwegzunehmen. Der Jubilar geht vorsichtigen Schrittes aber kerzengerade auf die Bühne, lächelt, verbeugt sich. Es geht ihm gut. Mit seiner fröhlichen, jux- und jungenshaften, dabei meisterhaft orchestrierten „Marche fatale“ sorgt das Ensemble Modern (nebst Ensemble der hauseigenen Akademie) unter Leitung von Sylvain Cambreling abschließend für gute Laune.
Zuvor erklingt in „Concertini“, entstanden zum Siebzigsten, das historische Lachenmann-Vokabular: Zerlegen eines Klangs in separate Aktionen, verteilt auf separate Instrumente. Da wuschelt der Oboist schon mal zehn Minuten auf einer Holzkiste herum. Und doch schweben die bekannten Klangbausteine im Raum, denn die Solisten stehen oben hinter dem Publikum, und immer wieder schippert Lachenmann zu kleinen Eilanden, wie das Harfensolo als Stück im Stück. Eine brodelnde Komposition, die zum hellwachen Zuhören verleitet, aber die 40 Minuten Dauer nicht trägt. Die Frankfurter tun, was sie seit der Aufnahme von „Mouvement – Vor der Erstarrung“ vor 40 Jahren immer getan haben: Leben in die Noten bringen, ein Leben voller Energie und Leidenschaft. Dazu passt, dass vor der Pause „Graffiti“ von Unsuk Chin erklingt, eine leichtfüßige, spitze Musik. Behende eilt die Komponistin von Bild zu Bild, oft akkordisch gedacht, klanglich immer ansprechend wie das schöne Gong-Röhrenglocken-Duett, das ritornellhaft in den zweiten Satz bimmelt.
Köln: „Ausklang“ von Helmut Lachenmann
Erkundung des Hörens
Am 30. November, drei Tage nach Lachenmanns Neunzigstem, erklingt eine weitere große Komposition des Stuttgarters in der Kölner Philharmonie. Es ist der erste Auftritt von François-Xavier Roth nach dem Bekanntwerden seiner SMS-Belästigungen in Köln. Das Publikum begrüßt ihn freundlich und unvoreingenommen, und nachdem Roth mit seinem SWR Symphonieorchester eine federnde, historisch informierte und energiegeladene Siebte Symphonie von Beethoven dirigiert hat, darf er geradezu frenetischen Beifall von Publikum und Orchester entgegennehmen.
Tatsächlich hört man einen derart ausgefeilten und mitreißenden Beethoven mit einem glänzend aufgelegten Orchester nicht alle Tage. Die Spielfreude des Rundfunkorchesters ist mit Händen zu greifen und schließt an die Präzision und Farbenpracht an, mit der in der ersten Konzerthälfte Lachenmanns „Ausklang“ aufgeführt worden ist. Der französische Pianist Jean-Frédéric Neuburger übernimmt den Solopart in einem Klavierkonzert, das keines sein will. Beständig seziert Lachenmann den vertrauten Klavierklang, fächert ihn im Orchester auf, wo er in seine Bestandteile zerfällt und sich wieder neu und facettenreich zusammensetzt. Ein dreiviertelstündiger Dialog zwischen traditionellen Klängen und einem Dickicht aus scharfen Effekten, denen man gerne lauscht und zusieht, auch wenn ihr Novitätsgrad bereits abgeschliffen wurde (das Werk entstand 1984/85). Es liegt eben nicht Neuheit um ihrer selbst Willen im Fokus Lachenmanns, sondern Erkenntnis: eine Erkundung des Hörens.
Köln: Baha und die wilden Siebziger
Der Streik in den Ford-Werken
Ende August 1973 bricht in den Kölner Ford-Werken ein „wilder“ Streik vornehmlich unter den türkischstämmigen Arbeitern aus. Ohne den Segen der Gewerkschaft legen zwölftausend „Gastarbeiter“ – schon damals verrät der Begriff die Hoffnung auf Unterstützung beim Aufschwung wie auf baldige Abreise – für fünf Tage die Arbeit nieder, bis Polizei und externe Streikbrecher die Ordnung gewaltsam wieder herstellen. Die damals noch ungehemmt wütende Springerpresse reibt sich die Hände. Ganz vorne steht Baha Targün, charismatischer Sprecher der Streikenden, der bald darauf zu einer sechseinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt und anschließend in die Türkei abgeschoben wird. Ein halbes Jahrhundert später formieren sich in Köln 20 Schauspielerinnen und Schauspieler aus der freien Szene zum Sanat Ensemble. Unter der künstlerischen Leitung von Nedim Hazar Bora wirbeln sie am 5. November ein Musical auf die Bühne, zwischen „Bobby McGee“ und „Aldırma Gönül“, einem türkischen Freiheitslied.
Der Abend tendiert zum Dokumentarischen, Zeitzeugen werden befragt, Sängerinnen skizzieren ihre eigene Zuwanderungsgeschichten. Im Publikum sitzen Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Ford-Werken, Junge aus der türkischen Community und Alte, die sich noch erinnern. Als einer von seinen türkischen Kollegen aufgefordert wird, jetzt auch ein deutsches Lied zu singen, fällt seine Wahl auf Hannes Wader: „… und es ist mir längst klar, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war.“
Mit Herz und Verstand rettet das Sanat Ensemble eine Kölner Episode vor dem Vergessen – eine Episode, die lehrt, nicht einverstanden zu sein, nicht mit Arbeitsbedingungen und -entlohnung, nicht mit dem Umgang mit Zuwanderern.
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