Während der internationale Musikbetrieb dazu tendiert, die Interpreten als Stars in den Vordergrund zu stellen, bevorzugt das Musikfest Berlin unter der künstlerischen Leitung von Winrich Hopp die Komponisten und ihre Werke, also die eigentlichen Schöpfer von Musik. Hierbei sind neben der künstlerischen Bedeutung auch Jubiläen ein wichtiges Auswahlkriterium.

Sylvain Cambreling und Helmut Lachenmann. Foto: Fabian Schellhorn
Eine Maßarbeit der Programmdramaturgie
So wurden in diesem Jahr Pierre Boulez und Luciano Berio zu ihrem 100. Geburtstag gewürdigt, obwohl sie bereits 2010 ausführlich vorgestellt worden waren. Damals waren nicht weniger als 17 Werke des persönlich anwesenden Boulez erklungen. Da eine so einflussreiche Jahrhundertfigur nicht einfach übergangen werden kann, kam sie in diesem Jahr mit einer kleineren Werkzahl erneut ins Programm. Das Frühwerk „Le soleil des eaux“ für Sopran, Chor und Orchester über ein Umweltthema wurde interessant gekoppelt mit „Les offrandes oubliées“ des Lehrers Olivier Messiaen. Erneut zu hören waren „Rituel – in memoriam Bruno Maderna“ sowie die ab 1957 mehrfach umgearbeitete Komposition „Pli selon pli – Portrait de Mallarmé“ für Sopran und Orchester. Zunächst faszinierten hier die aparten Klangfarben des umfangreichen, rund um die Celesta gruppierten Instrumentariums in sparsamer, fast Webern’scher Transparenz. Je mehr sich aber die Ereignisse wie ziellos aneinanderreihten, ermüdete der Hörer. „Eher langweilig“, notierte Adorno, nachdem er das Opus 1961 in Paris gehört hatte, „viel Metier, großartiger Klang, der kompositorischen Substanz nach dünn.“ Bewunderung verdiente allerdings neben der Sängerin Sarah Aristidou das von Franck Ollu geleitete Orchester Les Siècles, das am selben Tag bereits ein anderes anspruchsvolles Programm absolviert hatte.
Meister der Polystilistik
Luciano Berio, ein Freund von Boulez, wurde ausführlicher vorgeführt als 2010. Als Meister der Polystilistik erwies er sich schon in seiner „Sinfonia“ für acht Singstimmen und Orchester, die 1969 bei der Uraufführung in Donaueschingen bahnbrechend für die musikalische Postmoderne wurde. Nicht zuletzt in dem auf Gustav Mahler beruhenden 3. Satz war es mit den London Voices und dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Daniel Harding eine faszinierend bunte und zugleich Martin Luther King ehrende „Musik über Musik“. Berios Nähe zur Singstimme wurde geprägt durch seine Frau, die aus armenischer Familie stammende Cathy Berberian. Sie stimulierte auch sein Interesse an anderen Kulturen, das sich in seinen „Folk Songs“ widerspiegelt. Magdalena Kožená besitzt nicht die Exzentrik von „MagnifiCathy“, bewies bei diesen multinationalen Liedern aber doch viel Wandlungsfähigkeit zwischen Bel Canto, Gurren und Rufen. Da schon die „Folk Songs“ mit einer Solobratsche beginnen, war es naheliegend, dieses Instrument in „Voci (Folk Songs II)“ in den Mittelpunkt zu stellen. Antoine Tamestit spielte die Bearbeitungen sizilianischer Volkslieder intensiv und abwechslungsreich. Dagegen nahm Esa-Pekka Salonen mit dem Orchestre de Paris Berios 1984 nach dem Tod Cathy Berberians geschriebene Komposition „Requies“ wohl zu rasch, um noch als Trauermusik wahrgenommen zu werden.
Musique concrète
Werke von Helmut Lachenmann wurden anlässlich seines bevorstehenden 90. Geburtstags in Anwesenheit des Komponisten in fünf Konzerten gespielt. Als Schöpfer der musique concrète instrumentale hatte sich Lachenmann nach den 60er Jahren auf Geräuschhaftes konzentriert, sich danach aber zunehmend zur Musiktradition und zu unverfremdeten Klängen geöffnet. Dennoch sind seine „Concertini“ (2005), die mit dem Ensemble Modern erklangen, nur sehr locker mit der historischen Form des Concerto grosso verbunden. Anstelle von Solokonzerten gab es hier Scharrkonzerte oder Soli für Raumbewegungen mit kleinen, über die ganze Philharmonie verteilten Klanggruppen–Raummusiken auf den Spuren des Lehrers Luigi Nono. Das ansprechende Werk durchschritt verschiedene Stationen der Tonerzeugung, darunter sogar „natürliche“ Instrumentalklänge. Als Zugabe dirigierte Sylvain Cambreling die herrlich freche „Marche fatale“. Schab- und Luftgeräusche hörte man auch bei „… zwei Gefühle… Musik mit Leonardo“ (1992), wo ein Sprecher den Leonardo-Text über den Zwiespalt zwischen Furcht und Verlangen explosiv vortrug.
Atmender Schluss
Eine riesige Besetzung, darunter 8 Hörner, wählte Lachenmann für sein letztes großes Orchesterwerk. Der Titel „My Melodies“ (2018–23) ist ironisch gemeint, wirkliche Melodien waren nicht zu hören. Auch die vor dem Dirigenten aufgestellten Hörner verschwanden leider meist im massiven Tutti-Klang des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt. In Erinnerung bleiben jedoch die ausgedehnten Windgeräusche und der „atmende“ Schluss. Wieder wurde der Komponist lebhaft gefeiert. Der großartige Pierre-Laurent Aimard war Solist in „Ausklang“ für Klavier und Orchester und an der Seite von Mark Simpson und Jean-Guihen Queyras ebenso beim Trio „Allegro sostenuto“. In den vielen Momenten des Verklingens, im bruchlosen Übergang etwa von Klavier- zu Klarinettenklang, in den meist natürlichen Instrumentalklängen und dem nur sparsamen Umgang mit Geräuschen entdeckte man in diesen Werken aus den späten 80-er Jahren einen anderen Lachenmann, einen anderen Weg zur Befreiung des Hörens.
Von Chin bis Salonen
Neben den Jubilaren Arvo Pärt (90) und Younghi Pagh-Paan (80) kamen weitere Komponisten und Komponistinnen auch ohne Gedenktag zu Gehör, so Unsuk Chin, Toshio Hosokawa, Pascal Dusapin, Rebecca Saunders und Mark Andre in neueren Produktionen, Robin de Raaff und Esa-Pekka Salonen (Hornkonzert für Stefan Dohr) in Erstaufführungen und Ondrej Adámek in einer Hommage an Boulez als Uraufführung. Die Schwedin Lisa Streich, eine Erbin der postseriellen Avantgarde, wurde in zwei Konzerten des Ensemble Modern sowie des EnsembleKollektiv Berlin präsentiert. Die kinetischen Skulpturen am Strawinsky-Springbrunnen des IRCAM hatten sie angeregt, kleine Motoren in Konzertflügel einzubauen. Papierstreifen werden dadurch über die Klaviersaiten bewegt, was in den Kompositionen „Ofelia“ und „Orchestra of Black Butterflies“ für leise faszinierende Wirkungen sorgte. Wie schon in „Himmel“ und „Vogue“ waren auch hier Klavier und Harfe vierteltönig gegeneinander gestimmt, was die meist tonalen Musikzitate zu melancholischer Wirkung brachte. Für die Komponistin besitzt dies sogar eine „gewisse Tragik“ – die Ahnung vom Ende des Konzertwesens.
Glücklicherweise droht dem Musikfest Berlin nicht das Aus, ist es doch unter Winrich Hopp weiterhin eine kombinatorische Maßarbeit der Programmdramaturgie. Dazu gehörten die aufregende Gegenüberstellung von Arvo Pärt und Giovanni Palestrina mit dem RIAS-Kammerchor sowie Entdeckungen wie die spätromantisch-impressionistische sinfonische Dichtung „Das Meer“ des litauischen Malerkomponisten Mikalojus Konstantinas Čiurlionis oder das frühe, extrem schwere Oboenkonzert von Bernd Alois Zimmermann (souverän gespielt von Albrecht Mayer). Einen Höhepunkt bedeutete die Uraufführung von Marc Blitzsteins Bauhaus-Oper „Parabola and Circula“. Neben den Berliner Orchestern (einschließlich des improvisierenden Stegreif-Orchesters) waren Klangkörper aus den Niederlanden, aus Frankreich, Italien, Schweden, Südkorea und der Ukraine zu Gast in der Philharmonie, während England und die USA in diesem Jahr fehlten. Dabei dirigierten nicht nur Männer. So überzeugten die US-Amerikanerin Karina Canellakis am Pult „ihrer“ Niederländischen Radiophilharmonie und die Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla beim Orchestre Philharmonique de Radio France.

Münchner Philharmoniker statt in Gent in Berlin: Lisa Batiashvili und Lahav Shani mit dem Violinkonzert von Ludwig van Beethoven (siehe auch Leitartikel auf Seite 1). Foto: Fabian Schellhorn
Auch die Musik steht heutzutage nicht mehr abseits der Politik. Einen beklemmenden Höhepunkt bot das Rundfunksinfonieorchester Berlin unter Vladimir Jurowski, indem es mit Bohuslav Martinůs „Memorial to Lidice“, Josef Suks Meditation über den altböhmischen Wenzels-Choral, Arnold Schönbergs „Ode to Napoleon Buonaparte“ und Schostakowitschs Sinfonie Nr. 11 musikalische Proteste gegen Gewalt und Diktatur an einem Abend zusammenfasste. Aktuelle Anspielungen auf heutige Herrscher entdeckte man auch in der frechen „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ von Bernd Alois Zimmermann, wie die Dirigentin Anja Bihlmaier in ihrer Moderation erläuterte. Ein kulturpolitisches Statement war ebenso das Gastspiel des eng mit der Stadt Odessa verbundenen Ensembles Senza Sforzando, welches zeitgenössische Musik der Ukraine bot. Antoine Tamestit kombinierte in seiner Zugabe ein ukrainisches Wiegenlied mit einer Bach-Sarabande „für eine Welt ohne Grenzen“ – ein politischer Appell, den jeder verstand. Das Grauen von Gaza blieb allerdings unerwähnt, auch bei dem kurzfristig eingeschobenen Auftritt der Münchner Philharmoniker unter dem israelischen Dirigenten Lahav Shani.
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