Man glaubt es kaum: die zweite Vorstellung einer Opernnovität vor ausverkauftem Haus mit einer Viertelstunde Ovationen am Ende! Wenn man Chemnitz mit der Bahn IC(E)-frei ansteuert, glaubt man während der Fahrt erst mal nicht, in eine europäische Kulturhauptstadt zu kommen. Doch ausgerechnet die Oper der Stadt hat jetzt mit ihrem Auftragswerk „Rummelplatz“ das vollmundige Label auf einem Niveau beglaubigt, das man sich kaum besser denken kann!

Thomas Essl (Peter Loose), Jakob Ewert (Verteidiger), Felix Rohleder (Richter), Thomas Kiechle (Staatsanwalt) © Nasser Hashemi
Tiefe Schächte, ferne Utopien – Mit Ludger Vollmers Oper „Rummelplatz“ nach dem Roman von Werner Bräunig glänzt Chemnitz als Kulturhauptstadt
Hier lässt sich das berühmte Wort vom Gesamtkunstwerk beispielhaft durchdeklinieren. Das fängt bei der Vorlage an: Werner Bräunigs (1934-1976) großangelegter Wismut-Roman, der auf dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965 verdammt wurde. Das traf den damals gerade 31-jährigen Autor wie aus heiterem Himmel. War doch der Hochtalentierte sogar seinen Genossen auf dem Bitterfelder Weg mit der heute oft nur mitleidig belächelten Losung „Greif zur Feder Kumpel“ vorangeschritten. Dabei war er nur ein Exempel für einen Kahlschlag vor allem in Literatur und Film, an den nur der personelle Aderlass im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung von 1976 heranreicht. Dass es u. a. Christa Wolf war, die Bräunig bei dieser verhängnisvollen Tagung verteidigte, war ein Beispiel von Frauenmut vor Königsthronen. Dass der parteioffizielle Vernichtungsschlag und dieser Verteidigungsversuch etwas mit dem Wahrheitsgehalt und der literarischen Qualität, dem ganz eigenen packenden Sound, der poetischen Sprachgewalt Bräunings zu tun hatten, davon kann man sich seit dem posthumen Erscheinen des „Rummelplatz“-Fragments 2007 überzeugen. Wer es gelesen hat, sollte die Oper nicht verpassen. Wer die Oper zuerst sieht, wird danach bestimmt zum Roman greifen.
Für Hallenser kommt hinzu, dass Bräunigs Helden am 17. Juni 1953 mitten in Halle in den für einen seiner Protagonisten tödlichen Strudel der Ereignisse geraten. Aber auch, dass das verhinderte literarische Großtalent mit nicht mal 42 Jahren in Halle-Neustadt der erzwungenen Bedeutungslosigkeit und dem Alkohol erlegen ist. Kein Ruhmesblatt im Buch der heimischen Geschichte.
Das Menschen- und Zeitpanorama des über 600-seitigen Romans hat Jenny Erbenbeck kongenial auf den Librettopunkt gebracht. Es hat schon gute Gründe, wenn eine Autorin, so wie sie 2024, den International Booker Prize bekommt. Dieses Libretto trifft die Atmosphäre unter und über Tage. Natürlich lässt es viel weg, aber es bleibt bei der ungeschminkten literarischen Wahrheit.
Ludger Vollmer (* 1961) ist ein versierter, erfolgreicher Opernkomponist (u. a. „Paul und Paula“, „Lola rennt“, „Tschick“, „The Circle“) mit einem untrüglichen Instinkt für die Bühne. Er beherrscht das betont rhythmische Parlando, aber eben auch das große Orchester. Und er scheut sich nicht, eine große Liebesszene zu komponieren und verfremdet oder auch mal direkt zu zitieren, was jeder kennt. Es mag abenteuerlich klingen, wenn man es liest, aber auf ein chorisch wogendes „ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ die Aussagen von Marx über die Wirkung verschiedener Profitraten für das Verhalten des Kapitals zu legen, das ist hier so verwoben, dass es nicht nur intellektuell, sondern auch emotional zu berühren vermag. Diese Musik hat nichts von gekünstelter Novitätsversessenheit, sie macht die Figuren und wird von ihnen gemacht (um mal eine Wendung des Librettos abzuwandeln, bei der es um die Arbeit, das Erz und die Menschen geht). Vor dieser Musik muss sich nicht nur niemand fürchten, sie bietet neben den Zitaten auch einige verdeckte Bezüge. Die drei grellen Mädchen haben ihre Vorbilder, ob nun bei Mozart, Wagner oder Richard Strauss. Die instrumentale Ausschmückung beim Einfahren in den Schacht erinnert von Ferne an das Hämmern der Nibelungen bei Wagner. Für den neuen GMD der Robert-Schumann-Philharmonie Benjamin Reiners ein dankbarer Einstieg mit weit über Sachsen hinausgehender Strahlkraft! Dazu kommt ein fabelhaftes über zwanzigköpfiges Ensemble: ob Thomas Essl als Peter Loose, Counter Etienne Walch als Student Christian, Jacob Venter als aufrechter Altkommunist Hermann Fischer oder Marlen Bieber als Ingrid und Jenna Cazel als dessen Tochter Ruth – allesamt in Hochform und sozusagen mit dem Herzen dabei.

v.l.: Etienne Walch (Christian Kleinschmidt), Thomas Kiechle (Bergmann), David Sitka (Bergmann), Johann Kalvelage (Bergmann), Daniel Pastewski (Bergmann) © Nasser Hashemi
Zum Gesamtkunstwerk wird das Ganze schließlich durch die kongeniale Inszenierung von Frank Hilbrich. Die bedrohlich grauen Wände (hier gehören sie wirklich her) sind der Rahmen für die über die ganze in Zeitlupe zelebrierte Szenenfolge, in der jede Person punktgenau charakterisiert wird. Der Clou sind die Einblicke in die Arbeit Untertage. Jeder Bergmann in seinem beklemmend engen Stollenabschnitt. Was Volker Thiele hier mit seiner Bühne beisteuert, überträgt sich fast körperlich. Das metaphorische Ausbrechen aus dem Trott der Schwerstarbeit durch die Luftschaukel auf dem Rummelplatz, die präzise durchchoreographierten Tanzexzesse, die Prügeleien und stilisierten Chorauftritte, schließlich die Gerichtsverhandlung, die einen der Helden hinter Gitter bringt, weil man einen Sündenbock für ein Unglück braucht – das ist alles mit atemberaubender Genauigkeit aus der Musik inszeniert. Selbst der hinzugefügte Epilog, der auf die Abwicklung der Wismut hinweist, entgleitet in seiner Nüchternheit nicht ins Platte. „Ich hab die Arbeit gemacht. Und die Arbeit hat mich gemacht. Es war mein Leben. Auch wenn es jetzt so aussehen mag, als wär das alles nichts wert.“ Diese letzten Sätze von Ruth beschreiben genau die Haltung, die diese Oper bei ihrem Publikum ankommen lässt.

Ensemble © Nasser Hashemi
PS: Die „Rummelplatz“-Oper ist neben der Zwickauer Ausstellung „Sonnensucher“ mit Kunstwerken aus der Sammlung der SDAG Wismut das zweite herausragende Projekt, das sozusagen aus der Tiefe der Region das Projekt Kulturhauptstadt Chemnitz glanzvoll bereichert. Schade, dass niemand auf die Idee gekommen ist, eine Art Wismut-Kombiticket anzubieten, das Oper, Ausstellung und vielleicht noch einen Rabatt für den Roman von Bräunig gegenseitig begünstigt.
- Share by mail
Share on