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„My Heart Will Go On“ singt ­Sarah Maria Sun bei den Tagen für neue Kammermusik Witten 2025. Rainer Nonnenmann beobachtet viel Popaffinität, aber keine Zukunftsvisionen. Foto: WDR/Claus Langer

„My Heart Will Go On“ singt ­Sarah Maria Sun bei den Tagen für neue Kammermusik Witten 2025. Rainer Nonnenmann beobachtet viel Popaffinität, aber keine Zukunftsvisionen. Foto: WDR/Claus Langer

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Abbrüche, Umbrüche, Aufbrüche?

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Gedanken zur Festival-Szene neuer Musik · Von Rainer Nonnenmann
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Das zentrale Adjektiv der aktuellen Weltlage heißt „disruptiv“. Das heute vielbemühte Modewort war vor einigen Jahren noch unbekannt und kommt beispielsweise in der 5. Auflage „Fremdwörterbuch“ (DUDEN 1990) nicht vor, trotz damaligem Zusammenbruch der Sowjetunion, Fall des Eisernen Vorhangs und deutscher Wiedervereinigung, zweifellos alles „disruptive“ Ereignisse. Doch man nannte das nicht so, weil das Wort seinerzeit noch primär zur Beschreibung von evolutionären Sprüngen, Kirchenspaltungen und technologischen Revolutionen diente. Wie kam es zur Ausdehnung der Bedeutung auf alles Abrupte, Störende, Dysfunktionale? Wurden Politik, Gesellschaft, Kunst und Kultur tatsächlich „disruptiver“? Oder wir selbst vielleicht unbeweglicher, bestandsverliebter, veränderungsunwilliger?

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Aktuell erleben wir, dass lange als gültig erachtete Verhaltensweisen, Regeln, Allianzen und Institutionen plötzlich delegitimiert und gebrochen werden. Mit einem Mal entfesseln Autokraten blutige Kriege, verhängen Handelsschranken, nationale Grenzkontrollen, streuen Lügen und Verschwörungstheorien. Verwerfungen kennen auch Kunst und Kultur. Auch hier gibt es Politik-, Personal- und Generationswechsel, ARD- oder GEMA-Reformen, Mittelkürzungen, Streichungen, veränderte Förderrichtlinien, Umwertungen, Neuorientierungen … Jahrzehntelang zirkulieren im Festivalkarussell dieselben Ansätze und Akteure, doch plötzlich gibt es Wechsel. Das ist an sich nichts Schlechtes. Es kommt nur darauf an, was sich wie und wohin verändert. Schließlich wollen auch Kunst, Kultur, Musik stören, aufrütteln und dadurch neue Hör-, Denk- und Sichtweisen eröffnen.

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„Disruptiv“ im negativen Sinn ist die Abschaffung von „ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln“. Das Festival präsentierte fünfzehn Jahre lang neue Musik verschiedener Spielarten. Nun fand es letztmalig statt, denn die Stadt muss sparen, hat die Mittel gestrichen und die Betreibergesellschaft liquidiert. Köln genoss einst den Nimbus, „Welthauptstadt der neuen Musik“ zu sein. Doch nun existiert dort kein großes Forum mehr dafür. Im Mai 2026 wird es noch fünf längerfristig geplante Konzerte geben, doch nicht mehr unter dem Logo ACHT BRÜCKEN. Dem Publikum – heuer etwas über 12.000 Besucher – wird das Festival ebenso fehlen wie den vielen Kölner Ensembles und Initiativen neuer Musik, denen Auftrittsmöglichkeiten, Verdienstquellen, Präsenz in der Stadtgesellschaft und ein heller Scheinwerfer auf die gesamte Szene wegbrechen.

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Über Leitung, Profil, Programm, Finanzierung, Marketing, Zielgruppe und Reichweite von Festivals lässt sich trefflich diskutieren. Es gibt immer etwas zu kritisieren, zu verändern, zu verbessern. Doch unstrittig braucht die viertgrößte Stadt in Deutschland ein bedeutendes Festival für neue Musik. Folgt nun lähmende Stille? Oder kreativer Neuanfang? Nach 21 Jahren Louwrens Lagevoort wird ab August Ewa Bogusz-Moore neue Intendantin der Kölner Philharmonie und Geschäftsführerin der KölnMusik. Die studierte Cellistin, Orchester- und Festivalmanagerin bekennt sich zur Verpflichtung, gerade in Köln aktuelle Entwicklungen der Musik zu präsentieren. Zusammen mit den bisherigen und neuen Partnern und Förderern will sie für 2027 ein neues Festival mit Schnittmengen zu anderen Sparten, Stilen und Genres entwickeln. Man darf gespannt sein.

Eine Achterbahnfahrt durchleben gerade die Wittener Tage für neue Kammermusik. Dreißig Jahre lang leitete Harry Vogt das Festival. Nun gibt Nachfolger Patrick Hahn die Leitung bereits nach drei Jahren wieder auf, um fortan das Ensemble Intercontemporain zu managen. Soeben zeichnete sich im Wittener Programm ein Generations- und Paradigmenwechsel ab, doch nun stehen das Festival und die Konzert­reihe „Musik der Zeit“ ohne künstlerische Leitung und beschädigt da, weil diese Positionen nicht mehr Höhepunkt einer Karriere sind, sondern zur Durchgangsstation abgewertet wurden. Gemäß der WDR-Personalpolitik wurde die Stelle inzwischen senderintern ausgeschrieben. Die offene Ausschreibung erfolgt dann hoffentlich bald nach Aspekten, die neben der Einbindung der WDR-Klangkörper vor allem die Musik unserer Zeit exemplarisch in all ihren stilistischen, medialen und globalen Spielarten in den Blick nehmen.

Frühzeitig für Kontinuität gesorgt hat der SWR mit der Verlängerung der 2022 zunächst nur für fünf Jahre vereinbarten Leitung der Donau­eschinger Musiktage. Indem der Sender den Vertrag mit Lydia Rilling jetzt vorzeitig entfristete, bekennt er sich zur Zukunft der Musiktage. Die 1980 geborene Musikdramaturgin könnte das Festival nun weitere 22 Jahre bis zu ihrem Renteneintritt im Jahre 2047 leiten. Das kann aber niemand ernsthaft wollen, weil eine so lange Amtszeit zwangsläufig Horizonte verengt, Perspektiven verzerrt, Zirkel zementiert. Die musica viva des Bayerischen Rundfunks präsentiert unter kontinuierlicher Leitung von Winrich Hopp schon seit Langem vor allem Wiederaufführungen und Novitäten bereits etablierter Komponistinnen und Komponisten. Die bei der Ruhrtriennale periodisch alle drei Jahre wechselnde Intendanz hat momentan unter Leitung von Ivo Van Hove zur Folge, dass es bis 2026 so gut wie keine neue Musik gibt, weil der Schauspielregisseur lieber Theater, Tanz, Pop und Filmstars programmiert. „Disruption“ kann schlecht und auch gut sein, je nachdem, ob es sich um Abbrüche, Umbrüche oder Aufbrüche handelt.

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