„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill entzieht sich, wie so viele gute Bühnenwerke, dem Alterungsprozess. Zwar möchte man vor manchen Peinlichkeiten des Textes, die denen der „Zauberflöte“ in nichts nachstehen, gerne die Ohren verschließen. Aber die Ökonomie des schmalen Grats zwischen Habgier und Menschenverachtung springt selten so zielsicher ins Auge, die Ignoranz vor extremen Wetterereignissen („Taifune kommen nicht hierher“) könnte aktueller nicht sein. Die Stuttgarter Oper gehorcht einem anderen Trend der Zeit. Sie erzählt „Mahagonny“ als Rachefeldzug der Sexarbeiterin Jenny.

AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY: Alisa Kolosova (Leokadja Begbick), Josefin Feiler (Jenny Hill); 2025. Foto: Martin Siegmund.
Bechers Bilanz – April 2025: Frauenpower und Dichtersehnsucht
Stuttgart: „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“
Die blutige Logik des Zynismus
Kurt Weill bleibt im Stuttgarter „Mahagonny“ (die Premiere war vor knapp einem Jahr) weitgehend auf der Strecke. Der Gesang der Männer enttäuscht (ausgenommen Florian Panzierl als Jakob Schmidt und Laureano Quant als Sparbüchsen-Billy), das Orchester versteckt sich im hinteren Teil der Bühne. Intonation und dynamische Balance rutschen oft weg, gerade in den Ensembles, wenn der Bass auf dem Steg im Publikum singt und die Melodiestimme zehn Meter weiter hinten. Es geht einfach zu viel gute Musik verloren an diesem 22. April im ausverkauften Stuttgarter Opernhaus. Ob Dirigent Michele Gamba deshalb beim Schlussapplaus nicht nach vorne kommt?
Vielleicht müssen verführerische Kantilenen und ausgeklügelte Kontrapunktik zur Seite treten, wenn man „Mahagonny“ so böse zeigen will wie die Regisseurin Ulrike Schwab. Bei ihr wehren sich die beiden Hauptdarstellerinnen gegen männliche Zudringlichkeit und Dummheit, und das Opernhaus beschenkt sie mit zwei exzellenten Sänger-Darstellerinnen. Alisa Kolosova verkörpert Leokadja Begbick – gerne einmal die Auffangstation für Mezzosoprane am Ende ihrer Laufbahn – mit präzise modelliertem und durchschlagskräftigem Gesang, als wäre es Weills Antwort auf Strauss‘ Elektra. Noch bevor das Stück beginnt, lungert sie mit Ensemblemitglied Josefin Feiler herum. Jenny ist bei Schwab ein plantinblonder Männertraum im silbernen Bustier-Outfit Madonnas aus der „Vogue“-Zeit (Kostüme: Rebekka Dornhege Reyes). Mit Colt am Gürtel verwandelt sie sich in die Spiel- und Totmacherin des Abends; auch die drei Holzfäller gehen auf ihr Konto. Je mehr ihre Frauenpower der blutigen Logik des Zynismus gehorcht, desto schmerzlicher vermisst man sie als emotionaler Rettungsanker, wie man sie aus anderen „Mahagonny“-Inszenierungen her kennt.
In Schwabs verkommenem Mahagonny haben die Bewohner nichts zu verlieren. Die Fressorgie ist eklig wie nie zuvor, in der Liebesszene bedrängt man einen „freiwilligen Opernbesucher“, allein das Besäufnis beschränkt sich auf ein paar Kurze. Das Bühnenbild von Pia Dederichs und Lena Schmid verneigt sich vor Michelangelos „Jüngstem Gericht“ aus der Sixtinischen Kapelle, während die Solisten unentwegt Stangen, Tücher und Leitern hin- und hertragen. Ein Hoch im Übrigen auf die Fassung: Der„Benares-Song“ erklingt als Einleitung, gleichsam spiegelbildlich zur kalt lächelnden Zugabe der beiden Ladies („When The Saints Go Marching In“), im Spiel von „Gott in Mahagonny“ genügen erste und letzte Strophe. Damit lösen sich zwei Bremsklötze der Dramaturgie.
Düsseldorf: „Hoffmanns Erzählungen“
Vier Geliebte – vier Regisseure
Vier Frauen liebt der Dichter E. T. A. Hoffmann in der großen unfertigen Oper von Jacques Offenbach: Eine erleben wir in der Echtzeit von „Les Contes d’Hoffmann“, von dreien erzählt der Dichter, wobei offenbleibt, ob nicht alle vier der Fantasie entspringen. Warum also nicht das Werk, dessen Überlieferungslage nach drei handfesten Akten zerbröselt, vier unterschiedlichen Regisseuren anvertrauen, zumal sich ohnehin in gut drei Stunden Bühnenzeit niemand charakterlich, emotional oder intellektuell entwickelt? Die voll besetzte Oper am Rhein (koproduzierend mit Graz) erlebt am Karsamstag auf der einheitlich kargen, düster ausgeleuchteten Bühne von Stefan Rieckhoff vier Regiehandschriften. Die von der herbeigesehnten Sopranistin Stella berichtenden Rahmenakte gehören Tobias Ribitzki, der das komplette Bühnengeschehen in den Kopf der Titelfigur verbannt. Den singt Ensemblemitglied Ovidiu Purcel mit stählernem, leicht gequetschem Heldentenor mit nicht nachlassender Energie. Kimberley Boettger-Soller ist eine Muse mit so hellem Mezzosopran, dass eine Farbe im Ensemble fehlt, worunter die „Barcarole“ leidet.
Berlin: „Norma“
Lehrstunde in Sachen Belcanto
Wunderbar, nein: formvollendet musiziert wird auch bei der Staatskapelle Berlin am 26. April. Man muss generell davon überzeigt sein, dass die Vereinigung von individueller Stimmfärbung, Melodielinie, Rhythmik und Harmonik bereits so viel Emotionalität transportiert, dass schlüssige Handlungsabläufe zweitrangig werden, um sich in eine Belcanto-Oper wie Vincenzo Bellinis „Norma“ zu verlieben. Dabei macht die (mit dem Theater an der Wien koproduzierte) Staatsopern-Inszenierung des russischen Regisseurs Vasily Barkhatov alles richtig, indem er die Titelheldin als Genossin von Medea darstellt: eine, die in politisch aufgeheizter Stimmung ihren Mann gegen eine Jüngere verliert und sich rächt, indem sie auf die gemeinsamen Kinder losgeht. Barkhatov steckt seine Hohepriesterin in die gleiche Substandard-Wohnung, die alle haben (endlich mal wieder ein richtiges Bühnenbild, ersonnen von Zinovy Margolin), holt sie vom Sockel, offenbart das menschliche Drama.
Köln: Ensemble Musikfabrik
Strange Time for Canadians
Bei so viel Oper braucht es dringend einen Besuch des Montagskonzertes beim Ensemble Musikfabrik. Am 7. April schildert Oboist Peter Veale die Entstehung der kölsch-kanadischen Freundschaft mit dem Ensemble Paramirabo: ein Sextett aus Montréal mit einem Repertoire zwischen Komposition und Improvisation, zwischen Klang und Geräusch. Musikfabrik und Paramirabo musizierten gemeinsam im Februar 2025 in Kanada, nun erfolgte die Gegeneinladung in den Kölner Mediapark. Zwei der von den Gästen mitgebrachten Kompositionen haben es in sich: James O’Callaghan tastet die Grauzone zwischen Komposition und Konzertgeräusch ab. Das Sextett musiziert, rückt Stühle, hustet. Der Komponist mischt weitere Klänge hinzu. Da spricht doch jemand im Nebenraum? Ständig klopft es irgendwo. Und wenn musikalisch ein jump scare den nächsten jagt, könnte O’Callaghans faszinierendes „AMONG AM A“ auch einen Horrorfilm des „Haunted House“-Genres begleiten. (Bei youtube gibt es einen Mitschnitt, ab 1:17) Ebenfalls bemerkenswert ein Duett von Rodney Sharman für Oboe, Klavier und Toy-Piano, das mit dem klapprigen Klang des Miniatur-Instrumentes und der simplen Harmonik Erinnerungen an Kindertage weckt. Eine tröstliche Musik. Am Konzertende wendet sich Flötist Jeffrey Stonehouse an das Publikum. „Strange time for Canadians“, konstatiert er. Lasst uns also weiter zusammenrücken. Gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich stimmt die Chemie ohnehin, und musikalische Entdeckungen gibt es zuhauf.
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