Am 4. und 8. November 2025 präsentierte das in Berlin ansässige Zafraan Ensemble gemeinsam mit der lettischen Sopranistin Katrīna Paula Felsberga und dem Dirigenten Miguel Pérez Iñesta in zwei Konzerten das Projekt „Cabinet of Folksongs“. Die Gegenüberstellung von Luciano Berios 1964 entstandenen „Folk Songs“ und elf aktuellen, auf Grundage von lettischen Dainas entstandenen Stücken zeitgenössischer Komponist:innen wird ab 23. Dezember 2025 nun auch auf dem YouTube-Kanal des Ensembles zu sehen sein.
Das Zafraan Ensemble stellt sein Projekt „Cabinet of Folksongs“ vor.
Das Zafraan Ensemble stellt sein Projekt „Cabinet of Folksongs“ in einer eigens produzierten Online-Version vor
Ich gebe zu, dass ich ein großer Freund durchdachter Konzertprogramme bin. Veranstaltungen, in denen Interpret:innen lediglich bekannte Werke aneinanderreihen und sich dabei noch nicht einmal die Mühe machen, einen dramaturgischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Programmpunkten herzustellen, interessieren mich allerhöchstens in Ausnahmefällen; und ebensowenig lockt mich die ständige Wiederholung des immergleichen Repertoires, das man in Berliner Konzertsälen und Opernhäusern bis zum Überdruss erleben kann. Das Leben ist schlichtweg zu kurz, um sich all dem wieder und wieder auszusetzen und im Gegenzug auf die Chance zu verzichten, neue Erfahrungen gleich welcher Art zu machen. Gerade deshalb gehören die ausgefeilten, dramaturgisch intelligent konzipierten Veranstaltungen einiger Berliner Neue-Musik-Ensembles zu meinen großen Favoriten. Mit dem „Cabinet of Folksongs“, gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds, hat das Zafraan Ensemble kürzlich – am 4. November im Kammermusiksaal der Philharmonie und am 8. November im Theater im Delphi – in diesem Bereich eines der orginellsten künstlerischen Projekte des verstreichenden Jahres zur Uraufführung gebracht.
Anknüpftungspunkte
Zentrale Idee des „Cabinet of Folksongs“ ist es, Luciano Berios 1964 enstandene „Folk Songs“ für Stimme und sieben Instrumente einigen Kompositionen aus der Feder heutiger Komponist:innen gegenüberzustellen. Berios Zyklus, komponiert für seine damalige Ehefrau Cathy Berberian und deren enorm wandlungsfähige Stimme, setzt sich aus elf Volksliedern unterschiedlichen Ursprungs zusammen. Neben Vorlagen aus den USA, aus Armenien, der Provence, Sizilien, Sardinien und Aserbaidschan verwendete der Komponist hier auch zwei eigene, während seiner Studienzeit im Stile von Volksliedern geschriebene Stücke. In seiner Bearbeitung behandelte er sämtliche Liedmelodien als vorgefundenes Material, das er in neue musikalische Kontexte einbettete: Mittels charakteristischer rhythmischer und harmonischer Ideen sowie durch gezielte Anwendung einer die ursprünglichen Funktionen der Lieder unterstreichenden Klangdramaturgie entstand auf diese Weise ein frühes Beispiel für den in nachfolgenden Arbeiten häufiger verfolgten Ansatz eines Komponierens von „Musik über Musik“.
Den elfteiligen „Folk Songs“ stehen im „Cabinet of Folksongs“ elf Auftragskompositionen gegenüber, die sich gleichfalls mit vorgefundenem Material befassen: Ausgangspunkt ist in diesem Fall der sogenannte „Daina-Schrank“, den der lettische Ethnologe Krišjānis Barons Ende des 19. Jahrhunderts bauen ließ, um Tausende von ihm gesammelte, traditionelle lettische Spruchdichtungen und Texte – eben sogenannte „Dainas“ – zu archivieren. Diese kurzen, meist nur vier bis maximal sechs Zeilen umfassenden Texte seien, so die Ensemble-Geigerin Emmanuelle Bernard im vorbildlich gestalteten und informativen Programmheft, als „kleine Destillate menschlichen Welterlebens und der damit verbundenen Gefühle“ zu verstehen, habe sich doch „das alltägliche Leben“ vieler einzelner Menschen „mitsamt ihrer Art, die Welt zu erfahren und zu erleben“, in sie eingeschrieben. Im Mittelpunkt der Kompositionsaufträge stand die Aufgabe einer kreativen Anverwandlung dieser Textquellen, wodurch der Umgang Berios mit Volksliedern in gleichsam transformierter Gestalt in die Gegenwart übertragen werden sollte. Ziel war eine Konfrontation von Fremdem mit Eigenem, die bewusst nicht vom Wissen um lettische Volksmusik geprägt sein sollte, sondern auf alternative Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte abzielte.
Begegnungen
Aus den Begegnungen der lettischen „Dainas“ mit den jeweils individuellen künstlerischen Sprachen von Claire-Mélanie Sinnhuber (*1973), Yoav Pasovsky (*1980), Lisa Streich (*1985), Manuela Guerra (*1996), Ian Anderson (*1987), Zeynep Gedizlioğlu (*1977), Samir Odeh-Tamimi (*1970), François Sarhan (*1972), Maija Hynninen (*1977), Ádám Bajnok (*1992) und Oscar Bianchi (*1975) ist – es lässt sich nicht anders sagen – ein ebenso faszinierender wie vielfältiger Bilderbogen aus funkelnden musikalischen Miniaturen entstanden. In diesen ist das Zafraan Ensemble mal in seiner vollen Größe, mal in wechselnden kammermusikalischen Abspaltungen aber meist in Kombination mit einer Frauenstimme – auf imponierende Weise von der lettischen Sopranistin Katrīna Paula Felsberga beigesteuert – eingewoben; die musikalische Leitung des Projekts hatte der Dirigent Miguel Pérez Iñesta inne.
Während beispielsweise Mélanie Sinnhuber mit „Dzirdam/Dziedam“ ein intimes Stück komponierte, in dem Sopran, Klarinette und Viola gemeinsam an einem Tisch sitzend musizieren und die Tischplatte gelegentlich zur Hervorbringung leise geklopfter Rhythmen benutzt wird, verwendete Yoav Pasovsky in „Silv’ry rain“ ein zehnköpfiges Ensemble als Resonanzraum, der – oft in hohen Registern lokalisiert – die Stimme einfärbt und ausharmonisiert. Zeynep Gedizlioğlu wiederum führte in „Lēni, lēni“ Stimme und Saxophon zu einem verschlungenen, mit Klangfarbenüberlagerungen und Umrankungen arbeitenden Dialog zusammen, während Oscar Bianchi in „Grūti“ die bewegte Stimme ins Ensemble einbettete und sie als Auslöserin zur Öffnung von Echoräumen nutze. Und gelegentlich – nämlich in Samir Odeh-Tamimis kraftvollem, gestisch formulierten Violinsolo „Parakendisis“ und in Ian Andersons stark rhythmisch geprägtem Ensemblestück „HORSE DENTIST“ – verzichteten die Komponierenden auch auf den Einsatz der Singstimme, um die Textinhalte als verschwiegenen gedanklichen Hintergrund der Musik oder als von den Ensemblemitgliedern artikulierte Sprachschicht aufzurufen.
Eine besondere musikalische Begegnung stand schließlich noch als intermezzoartiger Dreh- und Angelpunkt genau in der Mitte des Programms zwischen Berios Zyklus und den gleichfalls zyklisch angeordneten, nahezu unterbrechungslos dargebotenen neuen Kompositionen: Louis Andriessens „Letter from Cathy“ für Stimme und fünf Instrumente (2003), dem die Vertonung eines Briefes von Berberian an Andriessen aus dem Jahr 1964 zugrundeliegt. Wie eine Zeitkapsel anmutend, geben die freundschaftlichen Worte der Sängerin hier den Blick frei auf Szenen ihrer Zusammenarbeit mit Igor Strawinsky im Enstehungsjahr der „Folksongs“.
Online-Version
Erfreulich ist schließlich ein weiteres Detail: Im Anschluss an die Konzerte Anfang November hat sich das Zafraan Ensemble um eine professionelle Videoproduktion des „Cabinet of Folksongs“ bemüht, um auf diese Weise dem Projekt mehr Nachhaltigkeit und eine größere Reichweite zu verleihen. Das knapp 70-minütige Ergebnis, von dem ich vorab einen Rohschnitt einsehen konnte, ist rundum gelungen und fasst das Projekt auf ästhetisch ansprechende Weise zusammen: Jeder Titel – ganz gleich, ob es sich um die einzelnen Lieder aus Berios Zyklus, um die elf Auftragskompositionen oder um Andriessens Brief-Vertonung handelt – wurde hier in eine ganz eigene audiovisuelle Gestalt gekleidet. Fließende Kameraführung, Aufmerksamkeit für Detaileinstellungen, Wechsel der Perspektiven und variierende Farbgebung sind einige der Mittel, mit denen die Musik auf visueller Ebene atmosphärisch angereichert wurde, um den Prozess des Musizierens adäquat einzufangen und abzubilden.
Das Video, für dessen Produktion Balthasar Effmert verantwortlich zeichnet, wird erstmals am 23. Dezember 2025 um 20 Uhr als Streaming-Event im YouTube-Kanal des Ensembles präsentiert und kann danach weiterhin für einen begrenzten Zeitraum bis 31. Januar 2026 an dieser Stelle sowie über einen Link auf der Zafraan-Website über die Video-Plattform vimeo abgerufen werden. Wer also die Live-Konzerte mit dem „Cabinet of Folksongs“ verpasst hat, dem sei nachdrücklich empfohlen, sich dieses wunderbare Projekt im digitalen Format zu Gemüte zu führen. Es lohnt sich.
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