Alabama, Alaska, Benares, Mandalay, Surabaya …: Brechts imaginäre Geographie exotischer Ortsnamen, die der eine oder die andere bei Weill öfters sehnsuchtsvoll besingen, bildet ebenso eine Topographie von Kolonialwarenhandel und Kolonialwarenhändeln ab, wo Gier, Gewalt und Ausbeutung walten. Es sind, wie die Witwe Begbick es weiß, Netzestädte allesamt, an denen Geld abgefischt wird und wer keins hat als nutzloser Beifang über Bord geht. Also gründet sie eine eigene Netzestadt, um Sehnsucht und Begehren selbst abzufischen. Ihr Mahagonny ist auch so ein süßes Versprechen wie Dubai-Schokolade: Gibt’s gar nicht. Und wenn mal doch, dann funktioniert es mit dem Fischzug gleich umso besser.

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Regie: Benedikt von Peter, Premiere am 17. Juli 2025 Deutsche Oper Berlin, Foto: Thomas Aurin
‚Aber dieses ganze Dubai …‘ … vielmehr „Mahagonny“ an der Deutschen Oper Berlin
Nun kam es an der Deutschen Oper Berlin zu einer abermaligen Stadtgründung zum Abschluss der diesjährigen Saison wie auch als markantes Ende der Intendanz von Dietmar Schwarz, die vor 13 Jahren mit Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ begann. Ein schöner Bogen übrigens. „Mahagonny“ indes wurde nicht gespielt, also im herkömmlichen Sinne. Es wurde richtiggehend gemacht, gleichermaßen um Adornos theoretische Anschauung „Wir sind Mahagonny“ von 1930 in die musiktheatralische Evidenz von 2025 zu überführen. Benedikt von Peter, der schon eine „Matthäuspassion“ umwerfend und eine „Aida“ nicht ganz so glücklich aus dem Bühnenkasten dem Publikum direkt vor die Füße und Ohren gelegt hatte, griff dabei auf seine Bremer Inszenierung von 2012 zurück (schon wieder 13 Jahre), die er kommende Spielzeit mitnimmt zu seiner neuen Wirkungsstätte nach Basel. Warum nicht, denn es ist großes Theater, Mitmach- und Raumtheater zugleich, mit dem Publikum als Spießgesellen der Ausbeuter wie der Ausgebeuteten, der Geldsucher und -verlierer. Man muss von Spielort zu Spielort durchs ganze Haus mitlaufen, darf mittanzen und (ja, das auch, wenn auch in Maßen) mitsaufen: Sekt der Marke Mahagonny de luxe, auch alkoholfrei zu haben, nach der Baisse zu 3 Euro das Piccolöchen. Das ist doch mal ’n Preis, bei dem manch eine*r gern zulangt!
Und schon ist man reingefallen auf von Peter/Brecht/Weill, ist mittendrin und handelt mit bei der Spaß- und Spießgesellschaft, auf dass es eine Freude ist, bis … ja bis es nicht mehr so lustig ist. Der Hurrikan, der Mahagonny zu vernichten droht, treibt alle zusammen und ins Sammel- oder Matratzenlager, das diesmal keine Turnhalle ist, sondern die ehrwürdige Bühne der Deutschen Oper, wo um die umherliegenden Geflüchteten die Theaterdinge dann ihren weiteren Lauf nehmen. „Denn wie man sich bettet, so liegt man“, singt jede*r in Sektstimmung das erste Mal noch lautstark fröhlich mit. Beim zweiten Mal dann, während des unter den Figuren laufenden Geschäfts von Raub, Vergewaltigung und Totschlag, bleibt es trotz Anfeuerung stille. Wer das für erkenntnisförderndes Lehrstücktheater hält, liegt aber falsch, denn die Aufführung reißt musikalisch, darstellerisch und schließlich emotional mit.

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Regie: Benedikt von Peter, Premiere am 17. Juli 2025 Deutsche Oper Berlin, Foto: Thomas Aurin
Dass aber das Konzept derart aufgeht, liegt zuvörderst an den Sängerdarstellern und ihrem schweißtreibenden Einsatz. Evelyn Herlitzius als eiskalte und gar nicht so lustige Witwe Begbick, die mit großem Einsatz alle durch die Foyers und Treppenhäuser der Oper vor sich hertreibt, bis sie am Schluss das finale Netz zuzieht. Ihr ebenso willfährig wie engagiert zur Hand, Thomas Ciluffo als der schmierige Prokurist Fatty sowie Robert Gleadow als ein wahrhaft monströser Dreieinigkeitsmoses von Stimm- und ansonsten schier tarantinomäßiger Gewalt. Annette Daschs Jenny nahm in der Verführung und mehr noch in ihrer Verzweiflung ein – natürlich dank eines ungemein einnehmenden Singens. Das zu Füßen liegende Publikum ebenso wie den glänzend heldentenoralen Nikolai Schukoff als Jim Mahoney, den seine prächtigen Holzfällerkumpane Sparbüchsenbill (Artur Garbas) und Alaskawolfjoe (Padraic Rowan) von der Verführung in die Vernichtung begleiten. Und als der vierte von ihnen, Jakob Schmidt, vermittels Überfressens stirbt, dann sorgte Kieran Carrels engelsgleich ätherischer Schwanengesang dazu, dass einem alles im Halse steckenblieb.
Allesamt spielten, sangen, rannten und schwitzten sie bis zur Verausgabung, und so auch die Kollektive. Das Orchester der Deutschen Oper, das unter Stefan Klingele den rechten Music-Hall-Sound mit Verve besorgte; der Chor, mal nicht als monolithische Klangwand, sondern in Gruppen und einzeln durchs Haus ziehend, und auch der „Chor der Werktätigen“, Partygäste von Mahagonny, im Leben draußen allerdings Mitglieder des Mehrgenerationenchores der Deutschen Oper sowie Mitarbeitende des Hauses.
Vielleicht war es schon ein Vorgeschmack auf die Berliner Sparmesser und Einschnitte, dass die Deutsche Oper, auf Bordmittel angewiesen, nicht ganz die optimale Soundprojektion und Klangregie stemmen konnte, die eine solch dezentrale Bühnenhandlung eventuell erforderte – zumal ein Repertoirehaus nicht ein technisch aufgepimptes Off-Festival ist wie etwa die wohlgenährte RuhrTriennale. Nun sind aber diese für die Schauwerte da, Opernhäuser hingegen für die Leute, und die wären andererseits des vorläufigen Charmes der Music Hall verlustig gegangen. Und womöglich dessen, dass sie Oper nicht nur sehen, sondern sie an Seele und Körper erleben konnten; dass Oper viel und oft schwere Arbeit ist, und bei dieser Mahagonny-Gründung selbstverständlich auch diejenige des engagierten Vorderhauspersonals und aller sich reinhängenden Techniker*innen umfasst.
Was eines anderen Gedankens noch wert wäre, wo man sich doch allenthalten Gedanken macht über neues, junges Publikum und dieses mit Musiktheaterpädagogik und dergleichen Vermittlung stalkt: Ob nämlich ein solches Musiktheater wie „dieses ganze Mahagonny“ als Arbeit am Werk nicht weit mehr und tiefer Menschen für das Genre begeistert, als jegliche Lernveranstaltung. Also, wer auf nach Mahagonny möchte zum Mitwirken und -werken, kann es noch am 22., 24. und 26. Juli tun. Ist besser als Dubai-Schokolade, die es ja gar nicht gibt. Und wenn, dann ist sie um nichts besser als Soylent Green.
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