Hauptbild
Johan Reuter, Maximilian Schmitt, Clemens Sienknecht. Foto: Brinkhoff/Mögenburg

Johan Reuter, Maximilian Schmitt, Clemens Sienknecht. Foto: Brinkhoff/Mögenburg

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Bechers Bilanz – November 2024: Trost spenden

Vorspann / Teaser

Gustav Mahler wollte in seiner Dritten Symphonie „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“. Die von Nathalie Bauer-Lechner überlieferte Formulierung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Aber sie passt gut zu einem überbordenden Werk, das die meisten der bis dato geltenden Maßstäbe sprengt. Wehe dem, der auf Mahlers Übertreibungen noch einen draufsetzt.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Köln: Mahlers Dritte Symphonie mit dem WDR Sinfonieorchester
Was mir Măcelaru erzählte …

Was gibt es nicht alles in Mahlers Dritter! Einen dreiviertelstündigen Sonatensatz, ein langsames Finale, grelle Trompetenfanfaren, nostalgisches Posthorn, nietzscheanisches Geraune, kindliches Bim-Bam, „O du fröhliche“, Kirmesmusik. Eine Welt eben. Vor Jahren hörte ich in der Elbphilharmonie eine Interpretation von Alan Gilbert, die so zäh geriet, dass nicht nur dem Soloposaunisten die Puste ausging, sondern auch im Finalsatz einer der Schlagzeuger kollabierte. Cristian Măcelaru schenkt am 1. November in der Kölner Philharmonie der Partitur Glauben. Alles mit Maß und Mitte. Die markanten Details bringt das WDR Sinfonieorchester mit seinen hervorragenden Instrumentalgruppen (Hörner, Trompeten, Posaunen, Oboen) deutlich hervor, für die richtige Balance sorgt die transparente Akustik der Philharmonie. Vor allem garantiert der Dirigent, dass diese von vielen Brüchen gezeichnete Musik im Fluss bleibt, dass die sinfonische Dramaturgie nicht stockt. Vor den heiklen Tempowechseln im zweiten Satz nimmt er trotzdem nicht Reißaus. Die Amerikanerin Sasha Cooke stellt er mitten ins Orchester, aus dem heraus sie dennoch den Raum füllt, als handelte es sich um eine Arie. Am Ende schließt Măcelaru das Finale („Was mir die Liebe erzählte …“) unmittelbar an den vorherigen Satz an und nimmt noch etwas Schwung aus dem Bim-Bam mit, damit es „ruhevoll“ nicht „weihevoll“ wird. Dabei unterstreicht er eine absteigende Viertonfolge, die Mahler später im artverwandten Finale der Neunten zum Blühen bringen wird. Eine großartige und bodenständige Aufführung, zu Recht gefeiert in der prall gefüllten Philharmonie.

Köln: Musik der Zeit mit dem WDR Sinfonieorchester
Akustische Schlachtplatte

Eine Woche später, am 9. November, widmet sich das WDR Sinfonieorchester Zeitgenössischem, erneut in der Kölner Philharmonie. Programmredakteur Patrick Hahn schlägt den Bogen von einer skandalträchtigen Szene in Florentina Holzingers „Sancta“ hin zum neuen Werk von Gordon Kampe, ein Auftrag des WDR und des Essener „NOW!“-Festivals: In „mein Fleisch“ verarbeitet der gewitzte Komponist Texte des deutschen Autors Senthuran Varatharajah, die den als „Kannibale von Rotenburg“ bekannten Kriminalfall von 2001 aufgreifen. Kampe spießt die Absurdität des Themas auf und kreuzt es grinsend mit dem Verzehr von Hühnerfleisch und Blutwurst. Sopranistin Anna-Lena Elbert und Bariton Holger Falk benötigen behutsame Verstärkung, um sich in der halbstündigen „Lyrischen Symphonie“ gegen Kampes Orchester behaupten zu können, ihre Duette bestechen mit wundervoll aufeinander abgestimmter Melodieführung. Kampe baut harmonische Resonanzräume für den Gesang, er fürchtet keinen Durakkord und wirft gleich in den ersten Takten ein Zitat (DAS Zitat) aus Hitchcocks „Psycho“ auf die akustische Schlachtplatte, um zu markieren, wohin die Reise geht. Seit vielen Jahren ist er es, der sich auch ernsten Themen mit guter Laune nähert. Der Österreicher Johannes Maria Staud schreibt ein saftiges Schlagzeugkonzert, das mehr auf Motorik als auf Rhythmik setzt und bei dem Christoph Sietzen über zwei Oktaven Kuhglocken fegt, um die rasanten Läufe im Gebimmel der Blumentöpfe zu stoppen. Aufhänger des von Brad Lubmann dirigierten Konzertes in der Reihe „Musik der Zeit“ war der 85. Geburtstag von Nicolaus A. Huber, der mit dem zarten, pointilistischen und weltläufigen Orchesterwerk „… der arabischen 4“ den Abend eröffnet. Bei ihm hat Kampe studiert. Man darf über derart undogmatische, fröhliche und energiegeladene Neue-Musik-Konzerte dankbar sein. 

Text

Hamburg: „Der Freischütz“
Ernst genommen

In Hamburg kann man bewundern, was die Bregenzer Festspiele uns vorenthalten möchten: einen ernst genommenen „Freischütz“. Es ist wahr, dass das schrullige Libretto von Friedrich Kind mit dem hanebüchenen gottesfürchtigen Ende – den rabenschwarzen Schluss der zugrundeliegenden Erzählung hätte Carl Maria von Weber nie durch die Zensur gebracht – erbarmungslos gealtert ist. Aber es ist eben auch ein präziser, lebhafter und poetischer Text, der noch in Nebensätzen Wichtiges über die Personen sagt, über ihre Herkunft und Sehnsüchte. Regisseur Andreas Kriegenburg kürzt die Dialoge in Hamburg kaum und das Ensemble stürzt sich mit Leidenschaft darauf, allen voran Alina Wunderlin als Ännchen mit unverbrauchtem Witz und ohne abgestandene Tricks vom Boulevard. Nebenbei würzt die aus Frankfurt stammende Sängerin ihre zwei Arien mit Proben ihres biegsamen und glasklaren Koloratursoprans. Warum sich der „Freischütz“ heute so schwer tut, liegt auch daran, dass Webers Musik nicht mehr für voll genommen wird. Warum sonst hat man in Bregenz in der Inszenierung von Philipp Stölzl die zweite Strophe der Agathe-Preghiera durch Samiel „singen“ lassen? In Hamburg präsentiert sich das Philharmonische Staatsorchester in Topform, und Dirigent Yoel Gamzou würzt die Partitur durch Ritardandi und Accelerandi, die mitunter völlig fehl am Platz sind (ein Ritardando mitten in der Stretta von „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“ – geht’s noch?), die aber die Musik entzünden und damit der Best-of-Playlist entreißen. Eh klar: Peter Konwitschnys Vorgänger-Inszenierung an der Staatsoper war bissiger, sarkastischer, kritischer. Beide stützen sich auf einen Samiel als Conferencier mit eleganter Kälte, aber Kriegenburgs/Gamzous „Freischütz“ schützt das Werk und erlaubt den Zuschauern, sich selbst ein Bild zu machen. Die übrigens waren am 20. November begeistert.

Artikel auswählen

Was lange währt wird endlich gut: von Corona ausgebremster Kriegenburg-„Freischütz“ feiert an Staatsoper Hamburg Premiere

Vorspann / Teaser

Im Sommer entfesselte Philipp Stölzl am Bodensee mit cineastischer Bilderopulenz und Interpreteneigensinn das große „Freischütz“-Märchen. Auch sonst stachelt der in über zweihundert Jahren zur deutschen Nationaloper...

Text

Köln: Herzog Blaubarts Burg
Lässiger Ehedisput 

Weniger gottesfürchtig schließt Béla Bartóks einzige Oper, der Einakter „Herzog Blaubarts Burg“, komponiert 1911. „Nacht ist es nun für immer“ grummelt der Bariton. Das Zerren um die Öffnung der sieben Burgtüren, weniger der Beleuchtung des alten Gemäuers wegen, als um etwas Licht auf den düsteren Charakter des Burgherrn zu werfen, ist ein kammerspielhafter Geschlechterkampf, beleuchtet durch melodische Floskeln von schmerzlicher Schönheit und ausgesuchter Farbigkeit. Am 5. November präsentiert die Philharmonie Zuidnederland (der man 2023 eingeredet hat, sich fortan Philzuid zu nennen) unter ihrem Chefdirigenten, dem in Köln oft und gern gesehenen Duncan Ward, eine konzertante Aufführung des Werkes. Deirdre Angenent (Judit) und Thomas Oliemans (Blaubart) singen ausgezeichnet, spielen aber ihre Rollen wie ein altes Ehepaar, als ginge es um ein Geschirrtuch. Oliemans vergräbt lässig die Hände in der Hose, wenn er seine Ländereien preist. Dazu passt der Prolog, den der Dirigent mit größtem Charme rezitiert und in dem Ward die rätselhafte Prosa des Librettisten Béla Balázs zu einer augenzwinkernden Ansprache herunterkocht. Damit könnte man auch auf runden Geburtstagen punkten. Bleibt Bartóks wunderbare Orchestermusik, die Ward und die Philzuid mit feinster Akkuratesse in der Kölner Philharmonie darbieten: die Farben leuchten, die Linien sind großzügig modelliert, die Dynamik ist gedrosselt, kann aber bei Bedarf explodieren. Ein schöner Abend, der doch erschüttern sollte. 

Köln: Ensemble Musikfabrik mit Lisa Streich
Das private Singen

Lisa Streich hat mich mit ihrem Trompetenkonzert im Juni ratlos zurückgelassen. Die Musikfabrik hebt am 23. November im Funkhaus des WDR ihr neues Werk „Vogue“ aus der Taufe, und nun erst verstehe ich, dass die schwedische Komponistin etwas sehr verletzbares, schützenswertes in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt: die Privatheit – im Unterschied zu den anderen Stücken auf dem von Gregor A. Mayrhofer dirigierten Programm, darunter das rotzige Quintett „Gormod“ von Bethan Morgan-Williams, das energiegeladene und witzige „Depth Duende Scarecrow Other“ von Lucia Dlugoszewski und ein Solostück für Doppeltrichterhorn von Arnulf Herrmann, das Christine Chapman mit atemberaubender Virtuosität uraufführt. Streichs „Vogue“ beginnt mit Hannah Weirich, die so somnambul wie möglich Klavier spielt und parallel ein paar trübe Pizzicati auf ihrer Violine knipst. Gleichzeitigkeit ist das Zauberwort des Stückes. Die Musikerinnen und Musiker des Ensembles singen, während sie eine nostalgische Musik spielen: Helen Bledsoe (Flöte), Peter Veale (Oboe), Axel Porath (Viola), Florentin Ginot (Kontrabass) und Dirk Rothbrust (Schlagzeug). Sie alle singen sehr zart, weder sich selbst noch des Publikums bewusst, die Melodie bleibt unverstanden, der Text sowieso, wie man eben singt, wenn man allein ist und sich allein fühlt. Das ist nicht die große Konzertgeste. Das ist die Erinnerung daran, was Musik vermag: Trost spenden.

CD: Grażyna Bacewicz mit dem WDR Sinfonieorchester
Glühende Ausdrucksmusik

Auf drei CDs veröffentlicht das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Lukasz Borowicz die komplette Orchestermusik der polnischen Komponistin Grażyna Bacewicz. Das Projekt begann in den Corona-Monaten und wurde soeben mit der dritten CD bei cpo abgeschlossen. Bacewicz war eine so begnadete Geigerin, dass man zunächst nur ihre Violinkonzerte wahrnahm. Dabei verdienen ihre vier Symphonien unbedingt Gehör. Wie Lutosławski geht sie vom Neoklassizismus aus, entwickelt ihn aber zu glühender Ausdrucksmusik. Bacewicz sucht kaum jemals den großen Gesang, sondern arbeitet mit kurzen Figuren, die sich – unter Vermeidung von Sequenz und Wiederholung – in Windeseile zu katastrophischen Steigerungen türmen und ebenso schnell wieder zerbröseln. Fast steht sie der turbulenten Energie Prokofjews aus den Zwanzigerjahren nahe. Die dritte und vierte Symphonie, komponiert in den Jahren, in den Lutosławski sein Konzert für Orchester schuf, sind klassizistisch zugeschnittene Viersätzer und summieren sich zu einer guten Dreiviertelstunde erlesener Rastlosigkeit. Das Scherzo aus ihrer letzten Symphonie würde als Zugabe jedes Orchesterkonzert rocken. Wir benötigen diese Komponistin dringend in den Konzerthallen der Gegenwart.

Post scriptum

An dieser Stelle hätte noch eine Besprechung des Kölner Gastspiels der ukrainischen Metal-Band Jinjer stehen sollen. Leider befand die „concert team nrw GmbH“, dass die nmz „keinen Bezug“ zur Musikrichtung der Band besitze und verweigerte mir die Akkreditierung. Zum Thomas Quasthoff Quartett hätte man mich hineingelassen. Hat mich aber nicht interessiert.