Die Uraufführungsabsage beim Essener „NOW!“-Festival hat im Oktober hohe Wellen geschlagen und auf den üblichen Plattformen die Verbreitung von Halbwissen und Häme gefördert. Die Kontrahenten von gestern reden heute miteinander und blicken in eine gemeinsame Zukunft. Am Konzertabend in der Philharmonie herrscht Routine, auch in der Einführung fällt kein Wort über den Eklat. Tito Ceccherini übernimmt das Programm fast ohne Vorbereitungszeit. Statt des neuen Violinkonzertes von Clara Ianotta erklingt eine Orchesterkomposition der Russin Elena Firsova. War da was?
Anna Lapwood. Foto: Ulrike Schumann
Bechers Bilanz – Oktober 2025: Mehr miteinander reden!
Essen: Orchesterkonzert bei „NOW!“
Auf Zehenspitzen durch den Sturm
Die Essener Philharmoniker integrieren ihr „NOW!“-Konzert in das hauseigene Abonnement. Bleibt in der Philharmonie deshalb am 31. Oktober jeder zweite Platz unbesetzt? Die gekommen sind, lauschen gebannt einem fordernden, zu jeder Zeit emotional packenden Programm. Es wirkt nun, da Iannottas Musik nicht mehr auf die von Lisa Streich antworten kann, etwas zusammengewürfelt. In Streichs luftigem „Segel“ müssen die Philharmoniker viel pusten und leise singen, wie so oft in der Neuen Musik der letzten Jahre. Selbst ihre Mollakkorde verwuschelt die schwedische Komponistin, dafür pulsen Marschtakte durch die Partitur, mal mit dicker Hose, mal auf Zehenspitzen.
Carolin Widmann im Orchester der Essener Philharmoniker mit Dirigent Tito Ceccherini. Foto: Sven Lorenz
Elena Firsovas „Night in Appen“ erinnert an die zitternden Schattenspiele eines Vampirfilms aus der Frühzeit des Kinos: Grusel ohne Grauen. Das Finale des Konzertes gehört Carolin Widmann und ihrer luziden wie musikantischen Interpretation von Alban Bergs Violinkonzert, dessen Details sie durch ständigen Blickkontakt mit dem Konzertmeister abstimmt. Der gibt den herzlichen Applaus gerne an den Dirigenten Tito Ceccherini weiter. Den Essenern sei zu dieser Wahl gratuliert. Ceccherini, der mit den führenden Neue-Musik-Ensembles Europas zusammenarbeitet, kennt das Repertoire genau, er dirigiert für das Orchester, nicht für das Publikum. Das „NOW!“-Festival endet am 9. November.
Köln: Young Conducting Award
Zum Finale mit zwei Orchestern
Zum Finalkonzert des „German Conducting Award“ am 20. Oktober reisen Agenten und Orchesterchefs aus nah und fern in die Kölner Philharmonie. Drei junge Männer mit viel Erfahrung wetteifern in den Kategorien Konzert und Oper: Henrik Christofer Aavik aus Estland, Chefdirigent in Pärnu; der Chilene Luis Toro Araya, Leiter des Orquesta Sinfónica de Concepción; und Friedrich Praetorius, der erste Kapellmeisterstellen in Weimar und Chemnitz absolviert hat und nun an der Deutschen Oper Berlin wirkt.
Publikum und Jury, vertreten durch die Hausherrin Ewa Bogusz-Moore, sind sich einig: Aavik gewinnt den Abend auf ganzer Ebene, überzeugt mit der heiklen „Pulcinella-Suite“ von Igor Strawinsky mit dem WDR Sinfonieorchester wie mit dem Duett von Marcello und Rodolfo aus „La Bohème“; sein Puccini atmet, schmiegt sich den Linien der Sänger an, bleibt aber stets im Fluss. Nach der Preisübergabe will er Beethovens „Geschöpfe des Prometheus“ als Zugabe dirigieren und schmeißt dem Gürzenich-Orchester das erste Tutti derart energisch vor die Füße, dass er sich den Arm auskugelt und mit schmerzverzerrtem Gesicht das Podium verlässt. Spontan springt Araya als Zweitgereihter ein. Hinter vorgehaltener Hand heißt es anschließend, dass Araya, hätte er die „Manfred-Ouvertüre“ mit dem gleichen Feuer wie jetzt Beethoven dirigiert, das Rennen für sich hätte entscheiden können. Die Unterschiede zwischen den drei Finalisten sind marginal, einfühlsam modellieren sie die Phrasen, ein Kopfnicken markiert den Einsatz. Und wer wie Araya im Ritt des „Uhrenduetts“ aus der „Fledermaus“ nicht ins Straucheln gerät, kann seine Laufbahn zuversichtlich angehen.
Düsseldorf: Anna Lapwood
Die Anna von nebenan
Dem staubtrockenen Namen „IDO-Festival“ zum Trotz reicht das fünfwöchige Programm des 20. Internationalen Düsseldorfer Orgelfestivals von Barock bis zur Moderne, vom Jazz bis zur Filmmusik. Intendantin Frederike Möller und ihr Team präsentieren (bis zum 3. November) die Orgel als Alleskönnerin, weitgehend gelöst aus ihrem liturgischen Umfeld. Am 25. Oktober hüpft Anna Lapwood durch St. Antonius, inspiriert von der erst 2016 geweihten Mühleisen-Orgel mit ihren modernen Schlagwerkregistern. Die junge Britin mit ihren zwei Millionen Followern und der Lizenz zu ausverkauften Sälen (legendär der Sturm auf ihr Gastspiel im Kölner Dom) begeistert ihr Publikum durch unverstellte Frische, Natürlichkeit und Leidenschaft. Sie moderiert wortreich, gestochen und witzig, bezirzt und singt, lockt die Kinder nach vorne, pfeffert zum Hans-Zimmer-Finale ihr Glitzersakko in die Ecke.
Anna Lapwood. Foto: Ulrike Schumann
Sie ist die Anna von nebenan, zuvörderst aber eine ausgezeichnete Organistin. Ihre Registraturen überwältigen nicht durch satten Sound, sondern leben von eleganten Kontrasten, die nicht nur in Verbindung mit dem Fernwerk eine räumliche Schärfe erhalten. Dabei verbirgt sich in ihren Klängen bei aller Weltzugewandtheit das Religiöse: im sehnsüchtigen Blick auf den Kosmos wie in der Hoffnung auf Rückkehr in den Schoß der Heimat (oder dem, was Heimat hätte sein sollen). Ihr filmmusikalisches Programm kommt über drei Moll-Akkorde selten hinaus, daher sende ich ihr meinen Wunsch, dass sie ihre große und vollständig gerechtfertigte Popularität auch dazu nutzen möge, Musik zu spielen, die mehr kann, als ihre Zuhörer in die Arme zu nehmen. Was, zugegeben, auch nicht gerade wenig ist.
Köln: Abel Selaocoe
Wurzeln in Südafrika, Geschichten von heute
Nicht nur Anna Lapwood, auch Abel Selaocoe zieht ein Publikum an, das selten an die Tempel der Klassik klopft: Der Cellist, Sänger und Komponist, geboren in Südafrika, war in der letzten Konzertsaison Porträtkünstler der Kölner Philharmonie und kehrt am 29. Oktober mit einem Solo-Recital zurück. Das Haus, eben noch von einem mehrtägigen Stromausfall geplagt, ist hervorragend besucht, gerade auch von U30, man sitzt eng beieinander und formiert sich gerne zum Chor, wenn der charismatische Musiker darum bittet. In Köln singt man gerne und gut.
Selaocoe mischt traditionelle afrikanische Gesänge, die er sanft in den hohen, liebevoll ausgeleuchteten Raum bettet, mit kantigen Klängen, ob sie nun von einer Software, vom Cello oder aus seiner Kehle stammen. Vieles multipliziert sich über Loops, die Schicht für Schicht zu Chören und Cello-Ensembles anwachsen. Nicht immer leicht zu sagen, welcher Selaocoe aus den Lautsprechern gerade auf der Bühne steht. Auch ein Bach taucht in seinen Geschichten auf, erinnert er ihn doch an die Kindheit, als seine Mutter, während er die Suiten strich, dazu eigene afrikanische Melodien sang. Und der niederländische Komponist Michel van der Aa, der brandaktuell mit Selaocoe die Komposition „Entanglements“ erarbeitet hat – wie immer bei van der Aa mit viel Elektronik und Handfestem, bis hin zum dance floor. Abel Selaocoe flüchtet sich nicht in die Abstraktion, er ist immer direkt, menschlich, manchmal sehr einfach, dann wieder auf listige Weise komplex. Und immer mutet er dem Publikum eine heutige Musik zu.
arte: Syd Barrett und Pink Floyd
Das Phantom der frühen Jahre
Der Gitarrist, Sänger und Songschreiber Syd Barrett prägte die frühen Pink Floyd, verlor sich alsbald zwischen LSD-Räuschen und Erfolgsdruck und musste schließlich von der Band durch Dave Gilmour ersetzt werden. Das war Anfang 1968. Bis zu seinem Tod 2006 blieb er ein Phantom, verehrt von den ehemaligen Mitstreitern, gesucht von den Fans, geschätzt selbst von jenen, die sich spätestens bei „Animals“ von der Band abwendeten.
Die britische Doku von Roddy Bogawa und Storm Thorgerson, zu sehen auf arte, lädt nicht nur Bandkollegen und Manager zum Interview, sondern auch Freunde und vor allem zahlreiche Freundinnen, um der erratischen Persönlichkeit auf die Spur zu kommen. Fotos zeichnen die Entwicklung hin zum beleibten Einsiedler in Cambridge nach. Es täte ihm leid, dass er Syd dort nie besucht habe, presst Gilmour hervor.
Leider interessiert sich die Doku nicht für das Innovative seiner Kunst. Dabei geht es bei Barrett nicht nur um die visionäre Lightshow, um die poetisch herausragenden Lyrics und nicht nur um die rätselhaften Klanggimmicks („The Bike“). Sondern auch um außergewöhnliche Akkordverbindungen („Lucifer Sam“), um chromatisch absteigende Skalen („Interstellar Overdrive“), um formale Gestaltung weit ab vom herkömmlichen Popgeschäft der ausgehenden 60er-Jahre. Man fände Gesprächspartner, die das anschaulich beschreiben und erklären können, ohne dass der Funke in ihren Augen verblasst. Wenn man ihnen denn mehr als 8 Sekunden pro Take einräumte. Wenn Who-Gitarrero Pete Townshend über den kreativen Gebrauch der damals schon als veraltet geltenden „Echo-Box“ spricht, blitzt auf, was die Doku sonst verschweigt.
Köln: „5 Freunde“ im Museum Ludwig
Künstlerische Verbindungen und private Liebschaften
Fünf Amerikaner schenkten der Kunst in den 50er-Jahren neue Impulse, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa: John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Cy Twombly. Musik, Tanz, Bild und Objekt durchdringen sich bei ihnen, und mehr als ihre Werke sind es ihre Neugier, Visionen und Ideen, die den Alltag in ihre Kunst eindringen ließen. Die bahnbrechenden Gedanken, Schriften und Aktionen Cages etwa strotzen noch immer vor Lebensfreude, während seine Musik aus dem Repertoire verschwand.
Die Ausstellung im Museum Ludwig dokumentiert die Einflüsse der „5 Freunde“ aufeinander wie ihre privaten Verbindungen. Neben den Collagen Rauschenbergs, den kargen Strichzeichnungen Twomblys und der leuchtenden Sinnlichkeit von Johns stehen vor allem die Choreografien von Cunningham im Vordergrund. Die Ausstellung erzählt, wie sich Kunst einer Gesellschaft öffnet, in der deren bürgerliche Tradition nicht mehr vorausgesetzt, vielleicht auch nicht mehr verstanden wird. Und über eine Zeit, da Künstler ihre Homosexualität noch hinter Codes verstecken mussten. Zu erleben bis zum 11. Januar 2026.
Nachsatz zu „NOW!“
In Essen ist deutlich geworden, auf welch dünnem Eis Komponisten und Orchester einander begegnen. Jedenfalls dann, wenn sie nicht ausreichend miteinander reden. Es gibt (nicht erst in jüngster Zeit) Komponistinnen und Komponisten, die mit den großen Klangkörpern fremdeln und sie am liebsten in etwas anderes verwandelten, egal, wie lange und wofür die hochspezialisierten Musikerinnen und Musiker ausgebildet wurden. Und es gibt Tarifverträge, die das Arbeitsumfeld im Orchester sinnvoll regeln und sich gleichzeitig als Hindernis erweisen, wo neue Wege beschritten werden wollen. Beides lässt sich nur langfristig ändern, wenn überhaupt. Korrigierbar aber sind Organisationsstrukturen, in denen notwendige Kommunikation versickert. So rasten in Essen zwei Züge aufeinander, die sich zu wenig für die Navigation des anderen interessierten.
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