Wenige Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts offenbart eine so ungebrochene Traditionsverbundenheit, Schönheit, Klangsinnlichkeit, Ritualität und Spiritualität wie das während sechs Jahrzehnten entstandene, erstaunlich homogene Œuvre von Sofia Gubaidulina. Ihre Popularität in Deutschland und Europa verdankt sich nicht zuletzt den „sakralen Sehnsüchten“ einer technoid, rationalistischen und avantgardistisch entzauberten Welt nach dem Tod Gottes, wie sie Peter Niklas Wilson 1992 in Bezug auf Musik von Scelsi, Feldman und Nono beschrieb. Nahezu alle ihre Werke verfolgen in Klang, Form und Aussage mystische oder biblische Motive. Am 13. März ist die Komponistin und orthodoxe Christin 93-jährig in ihrer dörflichen Wahlheimat Appen-Unterglinde nordwestlich von Hamburg gestorben.

In Zwiesprache mit Gott – Sofia Gubaidulina. Foto: Charlotte Oswald
Das Endliche mit dem Unendlichen verbinden
Geboren wurde Sofia Gubaidulina 1931 in Tschistopol in der damaligen Tatarischen Sowjetrepublik als Tochter eines Tataren und einer Russin. Nach Klavier in Kasan studierte sie in Moskau Komposition beim ehemaligen Schostakowitsch-Schüler Nikolaj Pejko. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich damals wie viele Musikschaffende mit Filmmusik. Während der Eiszeit unter Leonid Breschnjew ab Mitte der 1960er Jahre wurde sie vom sowjetischen Komponistenverband wegen Subjektivismus und Formalismus boykottiert. Statt in der UdSSR wurden ihre Werke beim Warschauer Herbst und der Biennale Zagreb uraufgeführt und im Westen bekannt. Zum fünfzigsten Geburtstag 1981 widmete ihr die Tonhalle Düsseldorf ein Festkonzert, zu dem sie nicht reisen durfte.
Mit den Komponisten Viktor Suslin und Wjatscheslaw Artjomow bildete sie 1975 die Improvisationsgruppe „Astreja“. Mehr privat als bei öffentlichen Konzerten erkundete das Trio osteuropäische Folklore, byzantinische Modi, schamanische Ritualmusik und Volksinstrumente. Für das russische Knopfakkordeon Bajan schrieb Gubaidulina mehrere Werke, als erstes „De Profundis“ 1978. Eines ihrer bekanntesten Stücke wurde die Umarbeitung von „In croce“ 1979 für Violoncello und Bajan anstelle der Orgel. Der Titel benennt die Kreuzigung Christi und die dazu analoge Verlaufsform. Aus entgegengesetzten Richtungen bewegen sich beide Instrumente aufeinander zu, um im Schnittpunkt ekstatische Klangkaskaden zu entfalten. Ihr erstes Streichquartett 1971 und die oratorienartige „Stunde der Seele“ 1974 zeigen Ähnlichkeiten mit russisch-orthodoxen Psalmodien.
Alle Musik Gebet und Zwiesprache mit Gott
Gubaidulina schrieb sowohl eindeutig religiöse Werke als auch Instrumentalkonzerte, Sonaten und Sinfonien, denen sie jedoch spirituelle Titel gab. Letztlich war ihr alle Musik Gebet und Zwiesprache mit Gott, da Musik „mit einer Materie zu tun hat, die das Endliche mit dem Unendlichen unmittelbar verbindet“. Die aus der Weltzeit fallende musikalische Zeit verstand sie als „sakralen Akt“ und Annäherung an Gott. Die Solopartien ihrer Instrumentalkonzerte stehen stellvertretend für den nach Erlösung suchenden Menschen. Das Klavierkonzert „Introitus“ 1978 assoziiert den feierlichen Einzug von Priestern und Ministranten zur Messe. Die erste Sinfonie „Stimmen … verstummen …“ 1986 besteht aus zwölf Sätzen – wie die Apostel – mit verschiedenen Klanglichkeiten in den geradzahligen Sätzen und in den ungeraden Sätzen einem durchgehenden D-Dur-Akkord, der ähnlich Wagners „Lohengrin“-Vorspiel wie göttliche Gnade aus höchsten Sphären langsam tiefer sinkt. Ihre zweite Sinfonie 1990 nannte sie „Alleluja“. Wie Bachs Musik ist auch ihre voll rhetorischer Figuren, symbolischer Formen, Instrumentationen, Proportionen und Zahlen.
Während der beginnenden Perestroika unter Mikhail Gorbatschow durfte Gubaidulina 1984 erstmalig in den Westen ausreisen. Seitdem wurde sie regelmäßig zu Festivals eingeladen und mit Kompositionsaufträgen bedacht. Ebenfalls aus der Sowjetunion emigrierte Musiker machten ihre Musik international bekannt. Nach der Uraufführung ihres Violinkonzerts „Offertorium“ 1980 spielte Geiger Gidon Kremer das Stück weltweit bei zahllosen Folgeaufführungen.
Ihr zweites Violinkonzert „In tempus praesens“ widmete Sofia Gubaidulina Anne-Sophie Mutter. Das Cellokonzert „Und das Fest ist in vollem Gang“ brachte Widmungsträger David Geringas zur Uraufführung. Und Mstislaw Rostropowitsch spielte das Solocello im wunderbar hell und licht instrumentierten „Sonnengesang“ auf den gleichnamigen Text des Heiligen Franziskus von Assisi. Flankiert von Glockenspiel und jauchzendem Chor verfällt das Cello stellvertretend für die suchende Menschenseele in verzückte Ekstase angesichts der Herrlichkeit Gottes und der Schönheit seiner Schöpfung.
1991 übersiedelte Gubaidulina nach Deutschland, wo sie und das Trio „Astreja“ sich unweit von Hamburg und ihres dortigen Verlags Sikorski niederließen. 1992 erhielt sie den Großen Russischen Staatspreis. Im gleichen Jahr kaufte die Paul Sacher Stiftung in Basel ihre bisherigen und künftig noch entstehenden Manuskripte. Gubaidulina wurde Mitglied von Akademien in Berlin, Hamburg und Stockholm, Ehrendoktorin der Konservatorien in Peking und Tianjin sowie der Universität Chicago. Zudem erhielt sie zahlreiche deutsche, internationale und russische Preise, Auszeichnungen und Verdienstorden.
Anlässlich des „Jahrs der Bibel“ und Bachs 250. Todesjahr vergab die Internationale Bachakademie Stuttgart 2000 vier Aufträge über die Passionstexte der vier Evangelien an Komponierende aus vier Erdteilen in vier Sprachen: Wolfgang Rihm, Osvaldo Golijov, Tan Dun und Sofia Gubaidulina. Ihre russischsprachige „Johannes-Passion“ ergänzte sie 2002 um „Johannes-Ostern“ zu ihrem spirituellen Hauptwerk, weil Kreuzestod und Auferstehung nur zusammen denkbar sind. Beide Oratorien sind Bekenntnismusik, „tief religiös, aber nicht kirchlich“, wie sie sagte, weil die russische Orthodoxie weder musikalische Darstellungen der Passionsgeschichte noch Instrumentalmusik kennt. Der Passionsbericht kreist psalmodierend um das Zentralintervall der chromatischen Sekunde als Symbol von Leid und Schmerz. In die horizontalen Linien brechen plötzlich opernhaft ausgemalte Schreckensvisionen der Johannes-Offenbarung als vertikale Einschläge, als würden die Kreuze auf Golgatha eingerammt. Passionsgeschehen und Apokalypse verkoppeln sich und das österliche Erlösungswerk mündet in eine Schau des himmlischen Jerusalem mit leuchtenden Cymbeln und jubilierenden Chören.
Vielleicht hat Sofia Gubaidulina nun wirklich erlebt, was sie in ihrer Musik so ausdrucksvoll imaginierte.
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