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Ophelia in Düsseldorf. Foto: © Bahar Kaygusuz

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Bechers Bilanz – Juli 2025: In der Oper gewesen. Gegen Krieg gewesen.

Vorspann / Teaser

In dem Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ jagt Karl Kraus den Nörgler und den Optimisten in einen Wortwechsel, aus dem sie nicht herausfinden. Ratlos stehen beide vor dem Dilemma, dass nur der Krieg den kriegslüsternen Nachbarn zum Frieden zwingt. Kraus schrieb über den Ersten Weltkrieg, aber seine Fragen brennen noch heute, bei jeder Nachrichtensendung und jedem Erschrecken darüber, wie kenntnisreich wir inzwischen über Waffengattungen und Militärstrategien parlieren. 

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Köln: „Die letzten Tage der Menschheit“

Antikriegsoper ohne Zynismus und ohne Antwort

Kraus’ ausuferndes, über 220 Szenen gestrecktes und mit 1000 Personen gespicktes Drama besitzt beklemmende Aktualität. Auch als Musiktheater von Philippe Manoury. In dessen zweitem Teil unterbrechen Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg ihr Spiel. Die Schauspielerin und der Schauspieler sind zuvor drei Stunden lang über die Interimsbühne der Oper Köln getobt, umbraust vom Gürzenich-Orchester (auf drei Podien verteilt), dem Kölner Opernchor, einem Dutzend Solisten, ganz zu schweigen von den Kameraleuten (Konrad Hempel und Claudia Lehmann), die ihre schreckgeweiteten Augen filmten. Nun wenden sie sich ans Publikum: „Hier im Opernhaus kann man natürlich leicht gegen den Krieg sein.“ Manoury und sein Librettist Patrick Hahn weichen der Aktualität nicht aus. Aber eine Antwort finden sie auch nicht. Resigniert zucken Ziolkowska und Blomberg die Achseln.

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Anne Sofie von Otters dritter Auftritt als Angelus Novus. Foto: © Sandra Then

Anne Sofie von Otters dritter Auftritt als Angelus Novus. Foto: © Sandra Then

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Manourys Musik wurzelt – wie die Kostüme von Tina Kloempken – in der Entstehungszeit des Krausschen Dramas (1915–1922). Immer wieder raunende Blechbläser und schmerzerfüllte Streicherkantilenen, aber auch kantige und zerbrechliche Strukturen werden in den seltenen Fällen hörbar, in denen es gelingt, sich auf die Musik zu konzentrieren. Die Solisten singen wenig und sprechen viel. Der gereimte Text mitsamt seiner Historizität dominiert, zumindest im ersten Teil, einer bemerkenswerten Antikriegsoper, die den überwältigenden Publikumszuspruch am 9. Juli verdient. Dabei ist sie weniger verstörend als Henzes „We Come to the River“ und weniger visionär als Zimmermanns „Die Soldaten“.

Der zweite Teil des Abends erzählt nicht mehr, er kommentiert. Das Gürzenich-Orchester gerät in Auflösung, die Bläser wandern hinter die Zuschauertribüne, elektronische Klänge vom Tonband übernehmen. Kälte und Stumpfheit des Krieges lassen sich spüren, Kraus’ Verse erreichen die Gegenwart. Der Abend wird böser und stärker. Er stellt sich selbst zur Diskussion. So entgeht Manourys „Die letzten Tage der Menschheit“ dem Kriegsgrusel, dem Betroffenheitstheater und dem Zynismus. Ein Dank an alle Beteiligten, darunter den souveränen Dirigenten Peter Rundel, Emily Hinrichs mit leuchtend hohem Sopran, Lucas Singer mit durchdringendem Bass und den Regisseur Nicolas Stemann. Und ein Kniefall vor der großen Anne Sofie von Otter, die die Angelus-Novus-Metapher von Paul Klee und Walter Benjamin verkörpert.

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Uraufführung von Philipp Manourys „Die letzten Tage der Menschheit-Thinkspiel in zwei Teilen“ an der Oper Köln

Vorspann / Teaser

Komplett wurden „Die letzten Tage der Menschheit“ noch nie aufgeführt. Karl Kraus selbst hat seine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ von 1922 auf eine Dauer von 10 Theaterabenden geschätzt und sie halb...

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Paris: „Les Brigands“

Christopher Street Day im Märchenschloss

Die opéra bouffe „Les Brigands“ darf als französisches Schwesterstück zur „Dreigroschenoper“ gelten. Hier wie dort fliegen die Herzen den Gaunern entgegen, während sich Politiker und Finanzverwalter als die wahren Banditen entpuppen. Im märchenhaften Pariser Opernhaus Palais Garnier verwandelt Regisseur Barrie Kosky „Les Brigands“ in eine kunterbunte Pride Parade auf den Spuren von Jacques Offenbach. Das französische Publikum vergnügt sich dennoch. Zu Recht: Schlagfertigkeit, Sexyness und Slapstick bringt niemand derart gekonnt auf die Opernbühne wie Barrie Kosky; keiner dürfte Offenbach derzeit so nahekommen wie er. 

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Les Brigands 2024-2025 © Agathe Poupeney - OnP

Les Brigands 2024-2025 © Agathe Poupeney - OnP

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Die Begegnung von Bürgertum und Halbwelt in den plüschigen Pariser Offenbach-Theatern spiegelt sich im quirligen Christopher Street Day, als den Kosky und seine Kostümbildnerin Victoria Behr die Briganten ausstatten. Ein queerer Zirkus (sorry), Flickflack und Spagat inklusive. Im knallroten Fummel glänzt Marcel Beekman als Falsacappa, Anführer der Banditen und dralle Dragqueen mit schneidendem Tenor, in dem jedes Wort und jeder Ton stimmt. Sollte dereinst eine Kultur des queeren Gesangs formuliert werden, stünde der Niederländer als Blaupause parat. Marie Perbost als Fiorella und Antoinette Dennefeld als deren Angebeteter Fragoletto – eine Hosenrolle, bei Kosky selbstverständlich als Frau gelesen – heben die Aufführung auf höchstes sängerisches Niveau. Michele Spotti und der von Ching-Lien Wu glänzend einstudierte Opernchor garantieren eine fabelhafte Aufführung, die auch bei hohem Tempo nie aus den Fugen gerät. Wer Tiefsinn bei Koskys Offenbach sucht oder die absurden Libretti von Meilhac/Halévy nacherzählt bekommen will, hat sich in der Tür geirrt. Hier herrscht die Kunst des perfekt inszenierten Klamauks. Kosky macht aus seinen Darstellern Hohepriester der präzisen Pointen, alle – Sänger, Schauspieler, Tänzer, Musiker, Publikum – geraten in ausgelassene Euphorie. Die Anzahl der unbezahlbaren Kabinettstückchen geht ins Zweistellige: die brüllend komische Lektüre eines abgefangenen Briefes, der Staubsauger als Pausenclown, das an Louis de Funès geschulte Spiel des Polizeichefs (Laurent Naouri), die goldenen Velázquez-Kostüme der Abordnung von Mantua usw. Und das Publikum im ausverkauften Opernhaus, das in den ersten Aufführungen gefremdelt haben soll, jauchzt am 4. Juli vor Vergnügen.

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Cottbus: Kleider machen Leute

Stephan Märkis Abschied mit Zemlinsky

Mit dem theatralischen Seufzer „Abschiedsstunde!“ breitet die ambitiöse Bürgerstochter Nettchen die Arme aus, als der, den sie für einen polnischen Grafen hält, ihre Heimatstadt wieder verlassen will. Keine Sorge, die beiden kriegen sich. Ob Graf oder Schneider, das Herz muss am rechten Fleck sitzen, so will es Gottfried Keller, und wir wollen es doch auch. „Kleider machen Leute“ von Alexander Zemlinsky ist die letzte Produktion von Stephan Märki, der das Staatstheater Cottbus bis zum 13. Juli fünf Jahre geleitet hat. Die Cottbuser Stadtgesellschaft dankt dem 70-Jährigen mit einer herzlichen Verabschiedung, lächelnd steht der Schweizer im Rampenlicht. Das hat er verdient, gerade auch mit Blick auf diesen Theatercoup

Zemlinskys vierte Oper wurde 1910 an der Volksoper Wien dreiaktig uraufgeführt und zwölf Jahre später für Prag auf zwei Akte komprimiert, wobei viel Nebenhandlung verschwand, einiges davon verabschiede ich tränenlos. In dieser Version kennt man das Werk. Der unermüdliche Zemlinsky-Forscher und -Dirigent Anthony Beaumont hat nun eine Fassung ausgegraben, die Zemlinsky 1914 für Mannheim erstellte, die dort aber nie herauskam und nun in Cottbus das Licht der Welt erblickt. Viel neue Musik erklingt da zwischen drittem Akt und Epilog. Zemlinsky scheint sich von den prägnanten Melodien des Werkes, die er harmonisch in immer wieder neuen Varianten zum Leuchten bringt, zu verabschieden und den dunklen Tonfall seiner letzten Werke vorzubereiten, dabei untypisch wörtlich aus Mahlers Vierter Symphonie zitierend. Wieviel Beaumont darin steckt, wäre in einem Kritischen Bericht nachzulesen.  

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KLEIDER MACHEN LEUTE. Szenenfoto mit (v.l.n.r.): Todd Boyce (Melchior Böhni), Anne Martha Schuitemaker (Nettchen) und Paul Schweinester (Wenzel Strapinski). Foto: © Bernd Schönberger

KLEIDER MACHEN LEUTE. Szenenfoto mit (v.l.n.r.): Todd Boyce (Melchior Böhni), Anne Martha Schuitemaker (Nettchen) und Paul Schweinester (Wenzel Strapinski). Foto: © Bernd Schönberger

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Stephan Märkis und Chris Comtesses Inszenierung kommt mit einer puristischen Bühne aus und einigen wenigen Projektionen (Silvia Merlo und Ulf Stengl). Die Geisteshaltung von Seldwylas Nachbarsort transportiert sich über die Kostüme von Elina Schnizler Wenn schon der Graf so über die Kleidung der Goldacher Bürger fachsimpelt, dass ein Verdacht keimt, der schließlich den Schneider enttarnt, muss die Produktion dem standhalten. Schnizler entscheidet sich für die Gesellschaftskleidung der frühen 60er-Jahre, die uns heute spießig erscheint, in Wahrheit aber mehr Eleganz besitzt als die des Publikums (unabhängig davon, ob man in Köln, Paris oder Cottbus in die Oper geht). Märki erzählt Strapinskis Abenteuer als spezifisch jüdische Erfahrung von hoffnungsfroher Integration und pogromhafter Ausgrenzung. Ein finster über die Bühne schleichender Teufel (Co-Ballettdirektor Stefan Kulhawec) droht mit bösem Ausgang. Das Konzept verlässt sich auch auf den herausragenden Paul Schweinester, einen fantastischen Tenor zwischen Bach, Lehár und Cerha, dessen Tonhöhen sich passgenau mit dem Orchester verbinden, ohne dass sein Gesang jemals an Präsenz einbüßt. Anne Martha Schuitemaker steht ihm als Nettchen mit puccinihaftem Druck zur Seite, Todd Boyces Böhni gewinnt in der dreiaktigen Version menschliches Format über die Whistleblower-Funktion hinaus; beide gehören zum Ensemble. Dirigent Alexander Merzyn, Orchester und Chor der Oper Cottbus, sie alle befinden sich in Bestform. Man scheint in diesem schönen Jugendstiltheater gerne und partnerschaftlich zusammenzuarbeiten und auch Dramaturgin Julia Spinola hält eine exzellente Einführung. Besser kann man eine Intendanz nicht abschließen.

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Düsseldorf: Florentina Holzinger

Das Wasser ist das Blut der Erde

Das Asphalt Festival bespielt zum 13. Mal den Juli in Düsseldorf mit einem vielseitigen, engagierten und kontroversen Kulturprogramm: Tanz, Konzert, Film, Theater, Oper kommen sämtlich vor, aber kaum noch in Reinform. Die Disziplinen durchdringen sich. So auch bei Florentina Holzinger. Man kennt einander, das Festival hat schon 2021 Holzingers „Tanz“ mitproduziert. Nun also „Ophelia’s Got Talent“ im Düsseldorfer Schauspielhaus, drei restlos ausverkaufte Abende. Nicht alle stehen die zweieinhalbstündige Performance (ohne Pause) durch, und vielleicht erlaubt man den Hoffnungslosen von der Warteliste, im Foyer zu lauern, dass wieder eine Tür knallt, um die Plätze der Wütenden einzunehmen. Die ersten Weitgereisten rümpfen schon die Nase beim Namen Holzinger, weil schon wieder nackte Frauen über die Bühne toben, atemberaubende artistische Leistungen vollbringen und sich Körperteile piercen (diesmal die Oberlippe) oder anschneiden (diesmal glücklicherweise nicht). Sie verkennen die Wucht, die Holzingers eingeschworenes Team auf die Zuschauer überträgt: Am 11. Juli gibt es Standing Ovations vom ganzen (!) „D’Haus“. Die Choreografin verstört, sie reinigt. Sie befreit das Denken vom Gedöns. Man verlässt ihr Theater als eine andere oder ein anderer, das schaffen nicht alle. 

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Ophelia in Düsseldorf. Foto: © Bahar Kaygusuz

Ophelia in Düsseldorf. Foto: © Bahar Kaygusuz

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Der Abend, durch den eine betrunkene und verfaulende Piratin führt, beginnt mit einer Talentshow mit Schwertschluckerin und Entfesselungskünstlerin und endet nach einem Blutbad im wörtlichen Sinne und einer Kollektivmasturbation am Helikopter bei den Mädchen, die die Zukunft in sich tragen. Zwar besteht ihre Choreografie aus kommerziell ausgebeuteten Gesten, aber was bleibt uns, wenn wir uns nicht mehr von ihnen rühren lassen? „Hassen wir uns mehr als die Natur?“, fragt Florentina Holzinger. Ihr Ophelia-Abend verbindet die Shakespeare-Heroine mit dem Wasser, in dem sie sich ertränkt. „Das Wasser ist das Blut der Erde“, sagt das kleine Mädchen. Vom Wasser lernen wir Schwerelosigkeit und Sterben. Immer wieder springen die Performerinnen in den Pool oder in Bassins, verwandeln sich in Seejungfrauen. Der Mythos von der Nymphe ist eine Vergewaltigungsfantasie, lautet ein Fazit des Abends. Dies treibt die Wut an, die Holzingers Choreografien grundiert. Ihr Gegenbild ist die Zärtlichkeit, die ersehnte wie die auf der Bühne gelebte. Die Österreicherin zählt völlig zu Recht zu den einflussreichsten Theaterfrauen der Gegenwart.

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Köln: Ensemble Musikfabrik

Instrumente aus einer anderen Welt

50 Klaviere, jedes von ihnen minimal tiefer gestimmt als das Nachbarinstrument, sodass das 51. Klavier genau einen Halbton neben dem ersten liegen müsste – das ist die Versuchsanordnung für eines der spektakulärsten Werke, das in den letzten Jahren europäische Musikfestivals aufmischte. Der Komponist von „11.000 Saiten“, der aus Graz stammende Georg Friedrich Haas, setzt sich seit einem halben Jahrhundert immer wieder neu mit der Mikrotonalität auseinander. Dabei denkt er nicht an intime Kammersäle, sondern an das große Publikum, an das Ausrufezeichen. Siehe die 50 Klaviere, die das Publikum umkreisen. Zirkus, auch hier.

„Les Espaces“ kann auch zwei Nummern kleiner, aber nicht weniger aufsehenerregend. Ursprünglich geschrieben für das Vierteltonklavier, das sich Alois Hába bauen ließ, erlebt das Werk mit sechs Jahren Verspätung am 12. Juli seine (leicht veränderte) Uraufführung durch das Ensemble Musikfabrik im WDR Funkhaus. Vier Pianisten quetschen sich nebeneinander, ihre zweimanualige Tastatur steuert Tranducer in zwei offenen, vierteltönig gegeneinander verstimmten Konzertflügeln. So bekommt der Klang die perkussive Physis und Sinnlichkeit, die Haas sucht. Eine Dreiviertelstunde lang purzeln die Tonketten durcheinander, unterbrochen von offenen Klangfeldern, in die nur wenige Töne hineintropfen. Die fabelhaften Benjamin Kohler, Laura Álvarez, Yeji Jung und Thibaut Surugue sind ständig in Bewegung, drängeln sich stehend um das Diskantregister, versenken sich in schwebende Klangräume, rutschen Zentimeter für Zentimeter zur Seite, um der Nachbarin Platz zu machen. Haas liebt den satten Klang, an seiner Wiege standen Debussy und Ligeti, nicht Webern und Lachenmann. Und er hört Neues im Schwirren der knapp 500 Klaviersaiten. Lauscht man „Les Espaces“, so hört man sie auch: Instrumente aus einer anderen Welt.