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Chor der Oper Köln, Carolina López Moreno, Gaston Rivero © Sandra Then

Chor der Oper Köln, Carolina López Moreno, Gaston Rivero © Sandra Then

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Bechers Bilanz – September 2025: Versöhnung wäre ein feiner Zug

Vorspann / Teaser

Die Kölner Oper startet in ihre mutmaßlich letzte Spielzeit im Staatenhaus, der Ausweichspielstätte für dann 14 Jahre. Ein „Ring des Nibelungen“ beginnt noch im Staatenhaus und endet am Offenbachplatz, als hätten es sich Jecken ausgedacht. Den Intendanten Hein Mulders hindert das nicht daran, ein Netzwerk von kooperierenden Opernhäusern über Europa zu ziehen. So lässt sich vieles stemmen, was sonst schwer finanzierbar wäre. Wo der eitle Wunsch nach Exklusivität überwunden wird, profitiert das Publikum. So auch bei „Manon Lescaut“, der ersten Premiere der Saison und des neuen Generalmusikdirektors. Die Produktion geht anschließend nach Madrid.

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Köln: Manon Lescaut

Vom Karussell in die Ödnis

Das Publikum feiert in der Premiere am 28. September vor allem die Sängerin der Titelpartie von Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“: Carolina López Moreno. Sie verzaubert zurzeit die großen Opernbühnen, denn die in Deutschland geborene Sängerin vereint eine edle wie strapazierfähige Gesangstechnik mit einer im italienischen Repertoire geforderten, aber selten verwirklichten Zartheit. Sie schmiegt sich auch dann dem riesigen Orchester an, wenn es schweigt – bis auf ein paar Fagotte oder ein Duett aus Flöte und Harfe. Ihrem großen Solo im ersten Akt, den sie ebenso schüchtern wie prinzessinnenhaft betritt, applaudiert sogar Dirigent Andrés Orozco-Estrada. Das Gürzenich-Orchester klingt lauter als in einem regulären Opernhaus, aber Orozco-Estradas Puccini tänzelt und lächelt, wo er nur kann, und drängen clowneske Holzbläserfiguren ans Licht, duckt sich auch mal eine Cellokantilene in den Schatten. Umso unerbittlicher die Schwärze des vierten Aktes. Die Kölner jubeln, der neue GMD erfreut sich eines Sonderapplauses. Gaston Rivero, der Mann an Manons Seite, punktet mit stolzer und kraftvoller Tenorstimme, doch Ensemblemitglied Insik Choi, ihr Bruder, stiehlt ihm fast die Show mit fein kultiviertem Bariton.

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Carolina López Moreno © Sandra Then

Carolina López Moreno © Sandra Then

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Regisseur Carlos Wagner rückt Puccinis erstes Erfolgswerk in ein Visconti-Italien der 60er-Jahre, gewürzt mit französischer Eleganz (Kostüme: Jon Morrell). Alles bleibt schwarz-weiß-silbrig, allein im zweiten Akt knallt das Rot der Verführung im Bühnenbild von Frank Philipp Schlößmann heraus. Im Getümmel des Anfangs verströmt ein Karussell Zirkus-Atmosphäre. Das Regieteam nimmt das Motiv des Unernsten sehr ernst und vergrößert so die Fallhöhe zur bedrückenden Sterbeszene des Liebespaares in der Ödnis. Vom Karussell bleiben erst Gitterstäbe, dann Brachland. Am Ende spiegeln sechs Statistinnen das Elend der Schönen; ihnen gelingt eine Präsenz, die an den Schluss von Poulencs „Dialogues des Carmélites“ erinnert. Trotzig reckt López Moreno die Arme in die Höhe: Menschen sterben, Liebe überlebt. Immer.

Wien: Die Zauberflöte

Priesterkaste im Spukhaus

Der Besuch einer „Zauberflöte“ ist ein Wagnis. Wer sich über das Stück lustig macht, es verbessern will oder es ohne Respekt vor den Tonhöhen singt, ruiniert es mit leichter Hand und schwerer Kehle. Und dann noch dieses hanebüchene Libretto! Es gäbe kaum eine Oper, die „schlechter gealtert“ sei als „Die Zauberflöte“, schreibt Adele Bernhard im Programmheft der Wiener Neuproduktion vom Januar 2025. An den unwoken Sprüchen Schikaneders arbeiten sich die Regisseure ab, auch wenn das beste Gegengift dazu immer noch die warmherzige, subtil psychologisierende, ja widersprechende Musik Mozarts ist. Die aus Prag stammende Barbora Horákova, deren Hannoveraner Corona-„Carmen“ mich beeindruckt hat, streicht an der Wiener Staatsoper die Hautfarbe Monostatos‘ und lässt zwar allen misogynen Blödsinn von Sarastro und seiner Priesterkaste stehen, zeigt diese aber als Rohkost knuspernde grau gewandete Sekte, die im Beliebtheitswettbewerb mit der elegant-feurigen Königin und den quirligen und empfindsamen Drei Damen schlecht abschneidet. Horákova verlagert das Setting in das Spukhaus aus „It“, zitiert die Hotelbar-Szene aus „Shining“ und betont damit das Bilderstarke, Übersinnliche und Komische des Librettos. Die Bühnenbilder und Videos von Falko Herold – von der Ouvertüre an gehen sie ineinander über – sind im doppelten Sinne fantastisch.

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Die Zauberflöte. © Wiener Staatsoper - Michael Poehn

Die Zauberflöte. © Wiener Staatsoper - Michael Poehn

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Dirigent Patrick Lange wählt im hochgefahrenen Orchestergraben am 3. September schnelle Tempi, auch das Staatsopern-Orchester setzt lieber auf Rasanz als auf Klang, folgt aber Lange, wenn dieser den Sängern Raum lässt (oft) oder auch mal einen verpatzten Einsatz korrigieren muss (selten). Julian Prégardien singt als Tamino eine „Bildnisarie“ abseits aller tenoralen Klischees. Sämtliche Phrasierung ist vom Text inspiriert, gleichsam eine coming-of-age-Erzählung in nuce und zum Weinen schön. Kathrin Zukowski vom Kölner Opernensemble steht ihm als Pamina in nichts nach, und Serena Sáenz als Königin der Nacht gestaltet ihre Koloraturen als Spiegel der Seele, nicht als Vokaletüden. Schließlich legt Horákova das Theater zu den Akten, holt alle Akteure in die Gegenwart, niemand fährt zur Hölle, alle begegnen sich mit kollegialer Freundlichkeit. Versöhnung wäre ein feiner Zug.

Köln: Musik der Zeit

Heimat: unwiederbringlich verloren

Die neue Saison „Musik der Zeit“ eröffnet am 13. September im Kölner Funkhaus vor gelichteten Reihen und unter dem übermütigen Titel „Keppel“, der nichts sagen will und konsequenterweise von Moderator Philipp Quiring auch nicht aufgegriffen wird. Das Motto laute vielmehr „Existenz“, und das trifft es schon eher, denn die eine Komponistin und drei Komponisten eint ein Gefühl von Heimatlosigkeit, auch wenn es vage formuliert wird, wie in „Niemandsland“ von Johannes Schöllhorn, in dem furchterregende Schläge zarte Flächen löchern – vom WDR Sinfonieorchester unter Vimbayi Kaziboni mit scharfer Genauigkeit realisiert. 

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WDR- Musik der Zeit- KEPPEL - WDR Sinfonieorchester, Funkhaus Wallraflplatz Koeln, 13.09.2025 V.l.n.r. Christina Daletska(Mezzosopran), Sergej Newski, Vimbayi Kaziboni. © Ben Knabe

WDR- Musik der Zeit- KEPPEL - WDR Sinfonieorchester, Funkhaus Wallraflplatz Koeln, 13.09.2025 V.l.n.r. Christina Daletska(Mezzosopran), Sergej Newski, Vimbayi Kaziboni. © Ben Knabe

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Bei Sergej Newski übersetzt sich Heimatlosigkeit konkret als Vertreibung: Der in Moskau geborene Komponist vertont in „Göttin der Geschichte“ ein Gedicht von Tomas Venclova, das unter den Kriegsgräueln zittert. Die ukrainische Mezzosopranistin Christina Daletska weiß das Grauen präzise zu lokalisieren und sammelt nach dem Konzert für die Opfer des russischen Angriffskrieges. Auf der Bühne überzeugt sie mit gestochener Textdeutlichkeit im tiefen Register und mit opulenter Blüte im hohen, sehr hohen. Neben der klangsinnlichen Uraufführung von Andile Khumalos „The Light we Carry“, einem Auftrag der Europäischen Rundfunkunion EBU, die in der Folge von allen Mitgliedern gespielt wird, bleibt vor allem Hannah Kendalls Orchesterwerk „He stretches out the north over the void and hangs the earth on nothing“ in Erinnerung: eine alptraumhafte Musik, in der alle Klänge verroht sind, wie Reste eines zerstörten Materials. Nur in zwei klimpernden Spieluhren lebt die Erinnerung an die Geborgenheit der Puppenstube. Ein kalter Gruß aus einer Heimat, die unwiederbringlich verloren scheint.

Köln: Uraufführung im Auftrag der ECHO

Sinnlicher Freudengesang im Club

Während die Einspielung eines dreiviertelstündigen Ensemblewerkes namens „Körper“ von Enno Poppe die Runde macht (ich empfehle, sich dieses wilde und zugleich coole Stück auf der Wergo-CD anzuhören oder wenigstens die Präsentation von Leonie Reineke im Deutschlandfunk), erlebt „Sōma“ (griechisch: Körper) am 21. September seine Uraufführung in der Kölner Philharmonie. Komponiert hat es der aus Porto stammende, in Berlin lebende Igor C Silva für Orchester, Live-Elektronik und das mit Jazzern besetzte Quartett „SlowMob“. Neben Silva spielen der Gitarrist Mané Fernandes, der Bassist Zé Almeida und der Drummer Diogo Alexandre. Letzterer dominiert mit treibenden Rhythmen einen Großteil des Werkes, das Orchester franst die Beats mit dichten Akkorden aus, öffnet sie, füllt sie in schillernden Farben. Ein sinnlicher Freudengesang ohne Melodie, dem Club näher als der „Neuen Platte“ im Radio. Der argentinisch-italienische Dirigent Mariano Chiacchiarini genießt den Groove des Quartetts und sorgt für eine punktgenaue Begleitung durch die Duisburger Symphoniker. Dass der Kompositionsauftrag von der European Concert Hall Organisation (ECHO) erteilt wurde, dem Zusammenschluss von 23 der wichtigsten europäischen Konzerthäuser, beweist einmal mehr die Offenheit, Lebendigkeit und Fröhlichkeit des Musiklebens.

Bochum: Bochumer Symphoniker

Die rappelnde Snare in Nielsens Fünfter

In Bochum freuen sich die Besucherinnen und Besucher der Sonntag-Matinee über das lichtdurchflutete Foyer der St.-Marien-Kirche, um die herum entschlossene Stadtpolitiker einen wunderbaren Konzertkomplex für die Bochumer Symphoniker haben bauen lassen. Und sie lauschen am 21. September gebannt der Fünften Symphonie von Carl Nielsen, einer schroffen, ja bösen Musik. Entstanden 1922 lässt das Werk des dänischen Komponisten die Spätromantik weit hinter sich, indem es disparate Klangfarben schichtet, anstatt raffinierte Mixturen anzusetzen. Etwa einen Trauergesang der Klarinette (grandios: Julia Puls) über einen versteinerten Dur-Akkord der Streicher, in den hin und wieder die Snaredrum hineinrappelt. Oder die unendlichen Wechselnoten im Kopfsatz, die anfangs Orientierung versprechen, bald nerven und schließlich invasiv die Macht an sich reißen. Ob diese Musik die Schrecken des Ersten Weltkriegs schildere, war Nielsen gefragt worden, was dieser verneinte, um im nächsten Atemzug zuzugeben: „Keiner von uns ist noch so, wie wir vor dem Krieg waren. Vielleicht also doch.“

Die finnische Dirigentin Emilia Hoving hätte Nielsens Fünfte nuancierter, feiner abgestimmt präsentieren können, so wie Mendelssohns Violinkonzert mit Arabella Steinbacher. Jeden Spitzenton versetzt sie mit einem musikalischen Augenaufschlag. Hoving singt und atmet mit der Solistin mit, liest ihr die Feinheiten an der Bogenspitze ab. Ihr linker Arm zeichnet jede Phrasierung nach und gibt dem Orchester Orientierung. Als in der Kadenz des ersten Satzes die Saite reißt und der Konzertmeister sein Instrument ausborgt (und zu Beginn des dritten Satzes zurückerhält), erlebt das Publikum, wie sich Profis über kleine Malheurs hinwegsetzen. Und am dritten Pult darf, zumindest zehn Takte lang, auch einmal eine Stradivari gespielt werden.

Ruhrtriennale: Osmium

Klangskulpturen aus dem Drone-Kosmos

Die aus Island stammende Cellistin und Komponistin Hildur Guđnadóttir verdient alle Aufmerksamkeit. Ihre Filmmusik zur aufregenden HBO-Miniserie „Chernobyl“ setzte Maßstäbe, für die zum Streifen „Joker“ bekam sie den Oscar. In ihrem Lebenslauf versteckt sich eine Zusammenarbeit mit der amerikanischen Drone-Metal-Band Sunn O))), und ganz im Geiste dieser in Mönchskutten gekleideten Lärm-Skulptöre tourt sie derzeit mit der Band Osmium, benannt nach einem stahlblauen Eisen am Rande des Periodensystems. Neben Guđnadóttir dreschen am 5. September bei der Ruhrtriennale im Duisburger Landschaftspark James Ginzburg und Sam Slater auf ihre Instrumente ein, brennen Rückkoppelungsschleifen ab und attackieren die Magengruben der Zuhörer. Der indonesische Sänger Rully Shabara rauht den Klang auf, selten setzt er sich ab, Melodie und Harmonik, eigentlich alle höheren Register bleiben außen vor. Stattdessen strukturieren rhythmische Ostinati die akustischen Wände, die aus reichlich Trockeneisnebel herausragen. 

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Osmium bei der Ruhrtriennale. Foto: Christoph Becher

Osmium bei der Ruhrtriennale. Foto: Christoph Becher

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Die vollkommen entschleunigte Musik endet nach gut 45 Minuten, obwohl der Veranstalter ein Zweistundenkonzert versprochen hatte. Das Publikum bleibt einfach sitzen, eher ungläubig als ungehalten. Krisensitzung im Künstlerzimmer, zu einer improvisierten viertelstündigen Zugabe erscheint das Quartett noch einmal auf der Bühne.

Wien: Ausstellung „Gemalte Musik“

Das bildnerische Werk von Arnold Schönberg

Nachdem die Schönberg-Erben sich dazu durchringen konnten, den bildnerischen Nachlass des Komponisten dem Arnold Schönberg Center in Wien zu vermachen, war der Weg frei für eine umfassende Ausstellung dortselbst. Die Bilder – Selbstporträts, Visionen, vor allem aber „Blicke“ – spalteten seine Zeitgenossen in Bewunderer und Verächter. Auch wenn sich Schönberg nur in bestimmten Lebensabschnitten vor die Staffelei stellte, um seinen Seelenhaushalt nach außen zu tragen, gehörte die Farbe auch zu den Leitmotiven seiner musikalischen Arbeit. Daher ergänzt die Bilderausstellung eine von Therese Muxeneder kuratierte und kommentierte Kontextualisierung durch Briefe, Fotos, Aufzeichnungen, Bühnenbildentwürfe und vielem mehr. Lesenswert ist etwa alles über die Begegnung mit Wassily Kandinsky, der Schönbergs Malerei förderte: Die beiden näherten sich an, inspirierten sich gegenseitig und entfremdeten sich voneinander, nachdem Schönberg dem Kollegen eine (von Alma Mahler kolportierte) antisemitische Äußerung um die Ohren geschlagen hatte. Eine erhellende, sinnliche und sehenswerte Ausstellung, zu besuchen bis 13. Februar 2026.

Und da wir schon einmal in Wien sind:

Immer wieder finden die Wiener, die in ihrer Republik unter Rechtspopulismus ächzen, die richtigen Worte. Sei es der legendäre beherzte Nachbar, der am 2. November 2020 dem nächtlichen Amokläufer im innerstädtischen „Bermudadreieck“ ein „Schleich di, Du Oaschloch“ entgegenrief. Oder der ungenannte Musikvereinsbesucher, der (laut Tageszeitung „Der Standard“) beim Konzert mit Lahav Shani einem Demonstranten und seinem Slogan „Freiheit für Gaza“ den urwienerischen Ratschlag an den Kopf knurrte: „Geh scheiß’n.“